:: Wirtschaftswundermythos und Migranten

Herr Sathom ist baß erstaunt, will doch offenbar die Bundeskanzlerin – ein Novum, das Herr Sathom bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten hatte – am heutigen 12.05.2009 erstmals in der Geschichte dieser schmucken Republik die Verdienste der Migranten beim Aufbau dieses unser aller (und warum eigentlich nicht unser aller?) Landes würdigen. Weniger wundert ihn, daß dies natürlich Gezeter und Getrampel in der rechten Schmollecke auslöst (von welchem man sich ein Bild machen kann, indem man etwa auf wordpress.com nach Tags wie Zuwanderer, Ausländer oder Aufbau Deutschlands sucht – derlei politisch solcherarts ausgerichtete Blogs hier zu verlinken, hat der Herr Sathom keine Lust). Herr Sathom findet, es ist für diese Würdigung höchste Zeit und an sich Zwölfe durch, denn wäre eine solche Anerkennung viel früher ergangen, ja selbstverständlich gewesen, anstatt die „Gastarbeiter“ und ihre Kinder und Kindeskinder jahrzehntelang spüren zu lassen, daß man sie am Liebsten wieder loshätte, ja, hätte man ihnen statt dessen ein Gefühl vermittelt, willkommen zu sein und ihre Verdienste wahrzunehmen, dann wäre der ganze Zores, den wir jetzt an Migrantenproblemen haben, gar nicht erst in dieser Form entstanden – Herr Sathom meint sogar, dieser sei vor allem Resultat einer selbsterfüllenden Prophezeiung, deren Vollzug jene, die es mal wieder schon immer wußten, lang genug herbeigeredet haben. Doch zur Rolle der Migranten beim wirtschaftlichen Aufbau hier mehr, denn für den Augenblick möchte Herr Sathom auf etwas anderes hinaus.

Denn daß eine Würdigung der Migranten bisher völlig ausblieb, hat nach Herrn Sathoms Auffassung auch noch einen anderen Hintergrund als den plumper Ausländerfeindlichkeit – nämlich die Rolle, welche der deutsche Wiederaufbau, namentlich das sogenannte „Wirtschaftswunder“, für die Mythologisierung der Geschichte der Bundesrepublik spielt. Daß dieses gerade anläßlich unseres 60. Geburtstages wieder in aller Munde ist, bewiegt Herrn Sathom nun, einmal einige seiner Ansichten zu diesem und anderen historischen „Wundern“ bundesrepublikanischer Geschichte zum Besten zu geben. Herr Sathom hat sich über dieses Wunder nämlich schon mehrfach so seine Gedanken gemacht, die er eigentlich vorhatte, im Rahmen einer umfangreicheren religionswissenschaftlichen Arbeit zu veröffentlichen,  welche er sich jedoch aus gegebenem Anlaß hier einmal gerafft zu präsentieren entschlossen hat (und, ja, wer Herrn Sathom kennt, weiß, daß „gerafft“ bedeutet, daß das Folgende weniger denn 15.000 Zeichen umfaßt, Herr Sathom gibt’s ja zu, er ist nun mal eine Labertasche). Er hofft, daß sein Gedankengang hier verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen erscheint, werde ihm nicht schaden, ebenso nicht der Herr-Sathom-Stil, in welchen er gebracht wurde; daß er mit seiner kleinen Vorabveröffentlichung eine eigene Auffassung und Interpretation des ihm vorliegenden Materials vorbringt und keine durch neurobiologische Untersuchungen an der Bevölkerung bewiesenen Fakten behauptet, sollte man im Hinterkopf behalten, wenn auch Herr Sathom seinen Gedankengang für bedenkenswert hält. Ob andere schon Ähnliches vermuteten, ist Herrn Sathom nicht bekannt, sofern dies aber nicht der Fall ist, sieht er natürlich das Urheberrecht fürs Folgende bei sich; und daß seine These auch etwas launig ist, ist seines Erachtens kein Schade.

Es geht bei den folgenden Überlegungen allerdings nicht nur um das „Wirtschaftswunder“, und somit auch nicht um die Frage der Beteiligung von Arbeitsmigranten, allein oder im engeren Sinne; Herr Sathom meint nämlich, daß zwei Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte, und zwar sowohl das „Wirtschaftswunder“ wie auch das „Wunder von Bern“, nicht zufällig eben genau so – Wunder – geheißen wurden, sondern daß damit eine ganz bestimmte Funktionalisierung dieser Ereignisse einherging, wenn diese auch vielleicht nicht absichtlich oder bewußt inszeniert erfolgte, sondern aus einem bestimmten deutschen Selbstverständnis heraus, welches sich an der jahrelangen Wahrnehmung beider „Wunder“ trefflich aufzeigen läßt. Tatsächlich ist Herr Sathom der Auffassung, daß jenes spezifische Verhältnis der Deutschen zu sich selbst, der Geschichte und dem Rest der Welt ihnen kaum eine andere Möglichkeit ließ – und bis heute vielleicht läßt – bestimmte Ereignisse eben genau so wahrzunehmen: als Wunder, mit allen Bedeutungen, die diesem Begriff implizit anhängen.

Die Deutung von Ereignissen deutscher Geschichte als Wunder (oder der Versuch einer solchen Deutung, der nicht immer gelingt) beschränkt sich, dies vorweg, dabei nicht nur auf die beiden genannten Ereignisse; sie findet sich beispielsweise auch in Bezug auf den Mauerfall oder auch die Fußball-WM von 2006 (siehe zu beidem unten).

Übrigens: je nachdem, wie man den Zeitraum ansetzen will, den das „Wirtschaftswunder“ andauerte, spielte sich dieses natürlich schon bereits vor Beginn der Arbeitsmigration nach Deutschland ab; es verdankt sich aber von Anfang an massiver Hilfe der an einem Pufferstaat interessierten Westalliierten, vornehmlich der USA, während in Ostdeutschland die Infrastruktur von russischer Seite demontiert wurde. Ohne die Aufbauleistung der damaligen westdeutschen Bevölkerung schmälern zu wollen, die sicher immens war, zeigt allein dies (und ferner der Gedanke, daß auch die anderen Kriegsteilnehmer ihre Länder, soweit zerstört, wieder aufbauten), daß von der Vollbringung eines Wunders nicht die Rede sein kann – denn entweder war dieses „Wunder“ von äußeren Faktoren und dem Wollen der jeweiligen Siegermächte abhängig, oder die Teilung des Landes hätte mysteriöserweise gleichzeitig dessen Bevölkerung je nach Wohnsitz in Wunderwirker und des Wunderbaren nicht Fähige verwandelt.

Aber zum Thema: Herrn Sathoms Auffassung ist, daß es sich bei der Bezeichnung jener Ereignisse als „Wunder“ keineswegs um Zufall oder bloße Metaphorik handelt, sondern um echte Versuche, diese Ereignisse tatsächlich – zumindest anteilig – der Sphäre des Profanen zu entrücken und ihnen einen numinosen Gehalt zuzuweisen, motiviert durch das Anliegen, ihnen eine doppelte Erlösungsfunktion zu verleihen: der Aufhebung historischer Schuld und der erneuten Positionierung der Deutschen dort, wo sie ihren Platz zu haben meinen, als eines besonderen unter den Völkern, der Reinstallation eines sehr alten Topos völkischer Religiosität also, nämlich der Vorstellung einer besonderen Verbindung der Deutschen zu historischen bzw. „Schicksals“-Mächten.

Was bedeutet das „im Klartext“? Nun: der Begriff des „Wunders“ wurde und wird – so meint jedenfalls Herr Sathom – hier nicht einfach als Bezeichnung für unverhoffte und erfreuliche (und, auch das impliziert die Rede von „Wundern“: vorab unwahrscheinliche) Ereignisse verwendet; aus der religiösen Sphäre stammend, behält er vielmehr seine religiöse Bedeutung bei, suggeriert also einerseits ein wohlwollendes Eingreifen göttlicher (oder schicksalhafter) Mächte zugunsten der Beteiligten, andererseits jedoch auch eine hervorragende Stellung der Betreffenden selbst, sind sie doch entweder in der Lage, „Wunder“ zu vollbringen oder verdienen es, solcher Wunder teilhaftig zu werden. Gerade Letzteres scheint Herrn Sathom dabei der wesentlichere Aspekt zu sein; die den Deutschen widerfahrenen „Wunder“ der Nachkriegsgeschichte wurden erlebt als Fügungen, welche das deutsche Volk rehabilitierten, jedenfalls in seinen eigenen Augen, und dabei zugleich ermöglichten, die Vorkriegsallüre einer bevorzugten Stellung in der Welt und ihrer Geschichte  – der „Schicksalhaftigkeit“ dessen, was diesem Volk, eben als „Schicksalsgemeinschaft“, widerfährt – fortzuschreiben. Die mit dem „Wunder von Bern“ und dem Wirtschafts-„Wunder“ einhergehende Rede vom „Wieder-wer-sein“ zeigt, daß diese Wunder empfunden wurden als Wiederherstellung eines positiven Status der Deutschen innerhalb der Völkergemeinschaft, und zugleich als Exkulpation von den Verbrechen des Nationalsozialismus; beide „Wunder“ wurden dabei stets auch in Erwartung der Anerkennung durch ein internationales Publikum verkündet, wurden als Ausweis dafür erachtet, daß die Deutschen im Großen und Ganzen des Weltgefüges rehabilitiert seien und ihren „eigentlichen“ Stand – den eines bewundernswert leistungsfähigen und mit hervorragenden Sekundärtugenden gesegneten Volkes – wiedererlangt hätten (dies unter Ausblendung des Umstands, daß die internationale Außensicht dem durchaus nicht folgen mußte, erzählten sich die Deutschen, daß sie überall wieder wer seien, doch vor Allem gegenseitig). Die Bedeutung des „Wunders“ ist dabei, wie gesagt, eine doppelte: man selbst als Deutscher ist derjenige, dem ein solches Wunder erwiesen wird, wodurch sich allein schon ein besonderer, bevorzugter Stand in der Gnade der Schicksalsmächte zeigt, aber auch derjenige, der zur Vollbringung eines „Wunders“ imstande, und somit auch dadurch hervorgehoben ist. Bezüglich beider Aspekte gilt: das Wunder bewirkt eine Erlösung derer, die seiner teilhaftig werden, es beweist ihnen (und ihrer Meinung nach der Welt), daß sie in einem solchen Ausmaß im positiven Sinne besonders sind, daß man – dies schon sehr früh die oft innerhalb Deutschlands gehörte, mit dem Zorn des Gerechten vorgetragene Forderung – ihnen doch gefälligst ihren ohnehin läßlichen Sündenfall nicht nur gefälligst zu vergeben, sondern diesen verdammt noch mal ebenso zu vergessen hätte, wie sie selber es bereits längst taten. Man kann diese „Wunder“, die den Deutschen so plötzlich wie passend widerfuhren, darüber hinaus nicht nur als Versuch ansehen, sich als hinsichtlich der Greuel des „Dritten Reichs“ begnadigt zu betrachten, sondern zugleich auch die zuvor vermeintlich vorhandene, völkisch bedingte positive Besonderheit des Volkes zu reparieren: wir sind wieder wer (nach einem kleinen historischen Lapsus). Es ist durch Wunder erwiesen.

Eine solche Mythenbildung kann natürlich nicht zulassen, daß ihr widersprechende Realitäten wahrgenommen werden – etwa die massiver Finanzhilfe der Westalliierten eben.

Daß der Mechanismus, welchem diese Mythenbildung folgt, immer noch funktionstüchtig ist (oder zumindest dafür gehalten wird), zeigen Versuche, auch in jüngerer Geschichte immer dann, wenn Wirtschaftslage oder Allgemeinbefindlichkeit gerade nicht allzu erfreulich scheinen, Ereignisse zu Wundern zu stilisieren: so strahlte beispielsweise am 27.01.2008 das ZDF um 20.15 Uhr den Spielfilm „Das Wunder von Berlin“ aus, gefolgt um 22.30 Uhr von einer ZDF-History-Dokumentation gleichen Titels. Zwar behandeln Film und Dokumentation die individuelle Geschichte eines Jugendlichen vor dem Hintergrund des Mauerfalls, doch bezieht sich der Titel eben auf diesen bzw. das Ende der DDR insgesamt, und ordnet beide Ereignisse als Wunder ein. Konsequenz ganz profaner politischer und ökonomischer Entwicklungen, sind Mauerfall und Wiedervereinigung zwar als historische Abläufe hinreichend bedeutend und sicherlich auch erfreulich, doch ohne Einstufung als Wunder offenbar nicht bedeutend genug. Diese erst macht sie verwendbar: für mediale Auswertung und Verkitschung. Ähnliches widerfuhr der Fußball-WM 2006, und zwar noch vor ihrem Stattfinden: nicht nur zufällig rhetorisch mit dem „Wunder von Bern“ von 1954 verknüpft, wurde sie z.B. in der FAZ bereits 2005 als „Wunder von Berlin“ vorweggeahnt, als das Blatt über Pläne berichtete, das Ereignis von Sönke Wortmann – Regisseur des Films Wunder von Bern – filmisch dokumentieren zu lassen (das Ergebnis legte die Meßlatte dann etwas tiefer und sprach im Titel nur von einem „Sommermärchen“, aber immerhin). Und eine Reihe von Wundern wurde ja auch von dem Großereignis erwartet: den Nationalstolz zu stärken, ein positives Selbstbild der Deutschen zu installieren, und zu beweisen, daß hier „die Welt zu Gast bei Freunden“ sei – kurzum, eine Wiederholung des Berner Wunders für die eigene Befindlichkeit, und fürs Image anderswo auch.

Noch einmal: auch wenn eine Tendenz erkennbar ist, die Wunderhaftigkeit von Ereignissen gezielt deklarieren zu wollen, wie es eben bei der WM 2006 der Fall scheint, meint Herr Sathom nicht, daß es sich bei der Wunderrhetorik per se um bewußte Inszenierung handelt. Ihm scheint vielmehr, daß es ein Merkmal historisch entstandener, über Generationen tradierter deutscher „Mentalität“ ist, sich selbst und das eigene Land im Verhältnis zur restlichen Welt und zur Geschichte so zu erleben, daß bestimmte positive Ereignisse nur reflexartig als Wunder gedeutet werden können, weil das eigene Selbstverständnis dies in Gestalt eines Automatismus nahelegt. Bestandteil dieser Mentalität ist, beispielsweise, eine so paranoide wie narzißtische Vorstellung, die ganze Welt starre ununterbrochen auf Deutschland und nehme alles, was sich hierzulande abspielt, weitaus intensiver wahr, als dies tatsächlich der Fall ist; eine Paranoia, die sich etwa darin äußert, daß man bei Naziausschreitungen manchmal auf politischer und medialer Seite weitaus mehr Besorgnis darüber antrifft, was jetzt die anderen von uns denken, als Abscheu gegenüber der Tat, und überhaupt stets zwanghaft auf die Außenwirkung fixiert ist: welchen Eindruck die WM 2006 mache, was wir wem wo gelten, usw. Wer sich so im Zentrum und als Nabel der Welt erlebt, dem beständige Aufmerksamkeit aller gilt, dem kann natürlich der Gedanke, auch Gegenstand von Wundern zu werden, nicht allzu fern liegen.

Was man natürlich auch ins Sarkastische wenden könnte: nämlich daß die Bezeichnung vielleicht auch meint, daß es schon an ein Wunder grenzt, wenn die Deutschen mal was zustande kriegen, und sie dies insgeheim auch ahnen.

Ob nun die Rede vom Wirtschafts-„Wunder“ und dem „Wunder von Bern“ auch heute noch quasireligiöse Affekte zu erregen vermag, sei bei Alledem einmal dahingestellt; es mag sein, daß der häufige Gebrauch der Bezeichnungen diese tatsächlich mittlerweile zu umgangssprachlichen Metaphern hat herabsinken lassen, wiewohl man, wie gezeigt, immer noch gern aufs Wunder zu rekurrieren versucht (andere inflationär benutzte Projektionsbegriffe, wie etwa „Zukunft“ oder „Exzellenz“, mögen aktuell zugkräftiger sein, zumindest nach Auffassung derjenigen, welche sie beständig herumposaunen, ganz gleich, ob sie in den Sätzen, darin sie erscheinen, eine semantische Funktion erfüllen).

Wer sich übrigens fragt, was Herr Sathom weiter oben mit „völkischer Religiosität“ meinte, dem seien diese zwei Werke empfohlen:

Mosse, George L.: Die völkische Revolution. Frankfurt/Main 1991 und

Goodrick-Clarke, Nicholas: The Occult Roots of Nazism. London/New York 1992

Neuere Auflagen gibt’s sicher, dies sind die, welche Herrn Sathom vorliegen; das Buch von Goodrick-Clarke ist, nebenbei bemerkt, eine ausgezeichnete Arbeit, worüber man sich vom etwas sensationslüsternen Titel nicht hinwegtäuschen lassen sollte.

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