Äußerungen des Kalibers, für die Herr Guido Westerwelle derzeit heftig kritisiert wird, hat er schon vor der Wahl getan; man sollte sich also nicht verwundern, hat man doch jederzeit wissen können, wes Geistes Kind der Mann ist. Gewählt haben genug Verblendete ihn – bzw. seine Partei – dennoch.
Diese Woche aber tönte es ganz neu aus Herrn Sathoms ZDF-Text in der Glotzkiste: Herr Westerwelle ließ verlauten, er sei mit der Debatte zufrieden; großer Zustimmung erfreue er sich. Das mag sich verhalten, wie es will (außer bei einigen Foren-Kommentatoren, die den Jauchekübel an Stammtischvorurteilen, aus dem Herr Westerwelle schöpft, offenbar genußfertig finden, ist davon nicht wirklich viel zu merken: die Umfragewerte der FDP sinken, zumal auch die vom sozialen Abstieg bedroht wähnenden Mittelschichtler unter den FDP-Wählern fürchten, gegebenenfalls bald zu denen zu zählen, die der Außenminister derzeit mobbt: siehe hier). Wenn’s jedoch stimmte, hieße das, daß eine abenteuerliche Weltdeutungsmär weiterhin Erfolg hat – wobei diese natürlich keineswegs allein auf Herrn Westerwelles Mist gewachsen ist, sondern einen Vulgärmythos darstellt, den Wirtschaftsliberale und ähnlich gesonnene Zeitgenossen seit eh und je propagieren. Zusammengebraut ist dieser nach altbewährtem Rezept: was eine Kellnerin wohl dazu sage, daß sie weniger bekäme als ein Hartz-IV-Empfänger, fragt Herr Westerwelle hier scheinheilig besorgt, beklagt zugleich einen Mangel an Leistungsethos, und appelliert damit an den guten, alten Sozialneid: irgendwelche Faulenzer laben sich am Steuergeld der Schaffenden und kriegen dann noch mehr vom Kuchen ab als diese.
Doch derjenige Punkt, der die eigentliche, hier erst wahrhaft teuflisch werdende Unwahrheit darstellt, ist ein anderer: denn die Freunde des Ellbogenkapitalismus und ihre Nach-dem-Mund-Redner stellen mit derlei Äußerungen die Tatsachen auf den Kopf.
Der Grund für den sich stetig verringernden (oder gar ganz desintegrierenden) Abstand zwischen Löhnen im unteren Segment und Sozialleistungen ist doch nicht der, daß die Hilfeempfänger zu viel bekämen – sondern der, daß profitsüchtiges Lohndumping und Billiglöhnerei sich wie wahnsinnig gebärden und austoben dürfen, die Arbeitenden also zu wenig bekommen, und immer noch weniger davon obendrein, so daß ihre Einkommen sich deswegen zwangsläufig im freien Fall gen Sozialhilfegrenze befinden. Es ist der entfesselte Brutalkapitalismus nach FDP-Gusto, es sind geldgeile Ausbeuter, die Hungerlöhne (und auch die nur zähneknirschend) zahlen, welche der Arbeitenden höhnen und sie nach Kräften verarschen – wobei sie noch mehr zu verarschen sucht, wer ihre Aufmerksamkeit von diesem Umstand auf angebliche Sozialschmarotzer lenkt.
Daß Leistung nichts mehr zähle, beklagt Herr Westerwelle und führt dies zurück auf eine Optimierung des Verteilens, die den spätrömisch dekadenten Arbeitsverweigerer (welch wunderbarer logischer Looping, Patrizier und Plebejer verbal derart auszutauschen) besser stelle als die ehrlich und hart Arbeitenden; dumm nur, daß Letztere bezüglich dessen, was ihre Leistung im neoliberalen Kapitalismus wert ist, Lektionen aus ganz anderer Richtung erhalten: der Billiglöhner darf schuften bis zum Umfallen, und es bringt ihm nichts, nicht weil unten welche an seinem Einkommen nagen, sondern oben, und wenn ein Unternehmen schwarze Zahlen schreibt, werden die fleißigen Wertschöpfer, denen sich dies verdankt, in Massen entlassen, damit irgendwelche Aktionäre noch mehr Moneten scheffeln können. Daß es tatsächlich Menschen gibt, die ackern wie die Ochsen und dafür so wenig bekommen, daß sie zusätzlich Hartz IV beziehen müssen, und es trotzdem hinten und vorn nicht reicht (siehe hier), hat der FDP-Mann konsequenterweise noch nicht gemerkt oder unterschlägt es charmant. Nichts gegen den Leistungsgedanken, meint Herr Sathom, er fühlt sich diesem sehr verpflichtet; aber er sieht in der gesellschaftlichen Entwicklung ganz andere Lehrstunden gegeben die Frage betreffend, was Leistung wert sei, und meint: Herr Westerwelle möge doch erst einmal vor der Tür der Bänker kehren und vor allem der Schwelle derjenigen, die es betreiben, daß für Arbeit immer weniger bezahlt wird, auf daß sie sich wie Onkel Dagobert die anderen vorenthaltenen Taler auf den Kopf prasseln lassen können. Daß die meisten Menschen es unerträglich fänden, wenn jemand, der arbeitet, oft weniger habe, als wenn er nicht arbeite, begründet Herr Westerwelle (siehe hier) die angebliche Zustimmung „unseres Volkes“ – daß seine Anwürfe davon ablenken, weshalb manche Arbeitende so wenig haben, daß sie an der Sozialhilfegrenze entlangschrammen, daß sie das Augenmerk auf einen Sündenbock lenken anstelle der tatsächlich verantwortlichen Profiteure und Herbeiführer der Situation, findet Herr Sathom unübersehbar.
Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist übrigens ein Artikel ausgerechnet im manager-magazin, der auf die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen geringem Einkommen und Hartz IV hinweist (siehe hier; der Artikel ist übrigens sehr luzide und durchaus empfehlenswert, zeigt er doch sehr schön auf, wie Abwärtsentwicklung der Löhne und Hartz-Gesetzgebung wirklich zusammenhängen, weshalb sich Leistung tatsächlich immer weniger lohnt (nämlich eben nicht aufgrund der zu hohen Hartz-IV-Sätze), und was die wahren Gründe sind, aus denen sich Arbeitnehmer als „Deppen“ fühlen dürfen. Auch wie Herr Westerwelle bezüglich des Lohnabstandsgebots die Dinge auf den Kopf stellt, ist dort sehr schon aufgezeigt. Herr Sathom jedenfalls legt die Lektüre jenes Textes ausdrücklich ans Herz.
Und weil wir gerade dabei sind, hier auch noch einmal ein paar kleine, harte Fakten zu Herrn Westerwelles Behauptungen, die Herr Sathom der lobenswerten Sendung quer der letzten Woche verdankt:
- Verharren wir zunächst noch einmal bei der vom Herrn Außenminister herbeizitierten armen Kellnerin: soziale Unterstützung steht jedem zu, dessen Einkommen ein bestimmtes Existenzminimum unterschreitet – auch dann, wenn er oder sie arbeitet; besagte Kellnerin könnte also, reicht ihr Einkommen nicht aus, solche Unterstützung als Aufstockung beziehen (wie eben jene oben erwähnte andere Dame, die dennoch mit den Lebenshaltungskosten kämpft – was auf einige der tatsächlichen Ursachen verweist, aufgrund derer es einem auch mit Arbeit dreckig gehen kann). Sie kann also im Gegensatz zu Herrn Westerwelles Behauptung gar nicht weniger als ein Hartz-IV-Empfänger verdienen – aha! (Aber, erinnert Herr Sathom: man kann so wenig verdienen, daß man dennoch staatliche Unterstützung benötigt; aufgrund des Lohndumpings nämlich.)
- Der Niedriglohnsektor hat sich nur deswegen wie ein Flächenbrand ausgeweitet, weil die Drohung des Abstiegs in die Hartz-IV-Empfängerschaft die Menschen veranlaßt, zu Hungerlöhnen zu fronen; eine weitere Absenkung der Hartz-IV-Sätze, die Herr Westerwelle ja fordert, würde die Abwärtsspirale der Löhne derer, die Arbeit haben, also weiter beschleunigen (siehe hierzu auch besagten manager-magazin-Artikel).
- In Deutschland, erzählt ein Experte in o.g. quer-Sendung, liegen Steuer und Sozialabgaben immer noch unter dem OECD-Durchschnitt; das nur mal dazu. Man ist hier also, folgert Herr Sathom, eher weniger „spätromisch-dekadent“ und „sozialistisch“ als in Ländern, die uns gemeinhin als Vorbilder wirtschaftsliberalen Kapitalismus unter die Nase gehalten werden. Geh da schau. Soviel zu Herrn Westerwelles Eindruck, daß es der entfesselte Sozialismus sei, der hier demnächst die Mittelschicht plattmachen wird.
Daß derlei Gerede, wie es aktuell wieder aus dem gelben Lager tönt, ein aufgelegter Schwindel (oder Ausdruck ideologieverblendeter Wahrnehmungstrübung) ist, zeigt sich auch an anderen wirtschaftsliberalen Mythen, die allzeit im Schwange sind, auch wenn Herr Westerwelle nicht konkret auf sie zurückgreift (seine Rede ist jedoch sehr wohl in deren Mythenpool eingebettet): etwa, daß Hartz IV die Arbeitslosen demotiviere, sich ernsthaft um Arbeit zu bemühen, da sie schon fast so gut (oder besser) lebten als die Arbeitenden. Abgesehen davon, daß auch dies mehr gegen die Niedriglöhne spricht als gegen die Hartz-IV-Sätze, unterschlägt es, daß sehr viele sich sehr wohl bemühen und darüber hinaus, daß sie ein leicht auszubeutendes Heer an Tagelöhnersklaven bilden: für einen Euro dürfen sie Jobs machen, die nicht lang dauern und sie nicht weiterbringen, um sich nach Auffassung der Agentur für Arbeit zu qualifizieren (was in diesen Jobs so gut wie unmöglich ist) und ihren guten Willen zu beweisen, da das Amt davon ausgeht, daß sie alle Halbaffen sind, die erst wieder lernen müssen, ihren Tag zu strukturieren, und sie somit unter Generalverdacht stellt – wovon irgendwelche knausernden Arbeitgeber profitieren, dieweil der Staat den Rest blecht. Ein Schelm, wer dabei das Arge denkt, daß bei Hartz IV als soziale Unterstützung getarnt ward, was eigentlich der Schaffung einer Schar billiger Lohnsklaven dient, einige davon im Niedriglohnsektor, einige davon im Stockwerk darunter angesiedelt (das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konstatiert immerhin laut oben verlinktem manager-magazin-Artikel, daß die Abwärtsentwicklung der Löhne infolge des Hartz-Drucks ein durchaus gewünschtes Ergebnis sei). So oder so zehren hier die Absahnenden von der Not der Hartz-IV-Empfänger und der Steuerknete der Arbeitenden gleichermaßen; die Arbeitnehmer finanzieren mit ihren Steuern und Sozialabgaben nicht das Parasitentum irgendwelcher Faulenzer, sondern die Möglichkeit der Dumpinglohnzahler, ihre Mitarbeiter kurz zu halten, da der Staat ja dann etwas zum Lohn zuschießt – aber dies zu sagen, fiele Herrn Westerwelle wohl nicht ein.
Einen anderen Schwindel, der zu den Lieblingstopoi neoliberaler Märchenerzählerei zählt, wärmt Herr Westerwelle in seiner aktuellen Verlautbarung allerdings sehr wohl wieder auf: daß die Empörung wider ihn nämlich nur daher rühre, daß er „den Finger in die Wunden des linken Zeitgeistes“ lege (will er sich so sadistischer Neigungen rühmen? Herr Sathom unterstellt’s mal nicht. Aber kann man die Finger in die Wunden eines Geistes legen? Ist der linke Zeitgeist Jesus, Herr Westerwelle sein ungläubiger Thomas? Na gut, lassen wir das). Auch dies eine bewährte Standardlegende der Wirtschaftsliberalen: obgleich seit Jahren der neoliberale Zeitgeist des Raubtierkapitalismus deregulierend wütet und die Meinungshoheit behauptet (was sich erst infolge der Finanzkrise wieder für den Augenblick geändert hat), behaupten sie dennoch bei jeder Gelegenheit, der herrschende Zeitgeist sei „links“; ein Dauerbrenner, der einen Zustand der Gesellschaft – zumal so weit es ihre tonangebenden Kreise betrifft – suggeriert, dem die Realitäten diametral entgegenstehen. Konsequent bezeichnet Herr Westerwelle die Diskussion nach dem Verfassungsgerichtsurteil als „sozialistisch“. Ein netter kleiner Trick, die Kritiker des ethikfreien Hau-den-Lukas-Liberalismus als ideologieverblendet zu diffamieren, wiewohl die eigene Ideologie es ist, die den Zeitgeist tatsächlich an der Leine führt. Ob Herr Westerwelle derlei wirklich glaubt, ob seine Claqueure dies tun, ob sie selbst von ihrer Ideologie so trunken und verblendet sind, diesen Quatsch mit der Realität zu verwechseln, oder ob sie einfach zynisch wider besseres Wissen reden, mag Herr Sathom nicht entscheiden. Übel und Schaden tun sie so oder so.
Herr Westerwelle jedenfalls verkündet, von seiner Rede kein Wort zurücknehmen oder relativieren zu wollen, da er sich „Wahrheit und Klarheit verpflichtet“ sehe; Herr Sathom mußte erst einmal kurz in sich gehen und eine rauchen, um das Gefühl abzuschütteln, sich plötzlich in einem nichteuklidischen Universum zu befinden, als er diese Selbsteinschätzung las, sagte sich dann jedoch, daß Besseres uns nicht passieren kann: denn was spräche eindeutiger gegen das, was Herr Westerwelle vertritt, was könnte besser den dahinter liegenden Ungeist entlarven, als dieses trefflichen Mannes eigene Worte, kurz: wer braucht da noch eine fünfte Kolonne? Und letzten Endes ist das ja auch eine Art von Wahrheit und Klarheit.