Gewiß, es ist etwas früh im Jahr, um sich diesem Thema zu widmen. Doch hat Herr Sathom nun mal gerade heute in der Reihe „Historische Ereignisse“ des Senders Phoenix eine weitere jener zahllosen Dokumentationen über den Arbeiteraufstand in der DDR gesehen – und zum ersten Mal in all den Jahrzehnten, in denen das Ereignis immer einmal mehr Revue vor ihm passierte, kam ihm ein Gedanke, der ihn verblüffte. Wobei nicht besondere Originalität, Qualität oder gar Ungeheuerlichkeit des Gedankens selbst überraschend waren, sondern vielmehr der Umstand, daß er ihm zuvor niemals kam.
Viele Jahrzehnte lang immer wieder mit Berichten über das historische Ereignis konfrontiert, die dieses völlig zu Recht als Ausweis für das Unrechtsregime Ulbrechts (und das war es, wie auch das DDR-Regime bis zum Ende – daran Zweifel zu säen, erschiene Herrn Sathom absurd) darstellen, hat sich Herr Sathom seltsamerweise eines nie gefragt: die West-Berliner und die Westdeutschen, die das alles sicherlich ganz fürchterlich fanden, was taten sie eigentlich, während im Osten Menschen mit Steinen gegen Panzer vorgingen? Es wird nie thematisiert, wiewohl es doch auffallen muß: sie taten – nichts.
Nichts als, sofern sie in West-Berlin lebten, sich das Ganze im RIAS anzuhören und ganz schrecklich zu finden, sich vielleicht angenehm zu gruseln über den erneuten Beweis für die Bösartigkeit des Kommunismus – dieweil aber sich „drüben“ landesweit Menschen solidarisierten, unter Lebensgefahr protestierten, ist von spontaner Solidarisierung etwa der West-Berliner, wenigstens von spärlichen öffentlichen Solidaritätskundgebungen – über die damals noch offene Grenze zu gehen und sich zu beteiligen, will man ja gar nicht verlangen – in den historischen Dokumentationen nie die Rede, und Herr Sathom kann auch keine Informationen finden, daß derlei stattgefunden hätte. Außer einer nachträglichen Trauerfeier am 19. Juni – doch Tränen im Nachhinein sind immer wohlfeil.
Daß sich Westalliierte und Bundesregierung zurückhielten, ist nachvollziehbar – die Gefahr eines kriegerischen Konflikts mit der Sowjetunion mußte zur Vorsicht mahnen, und wenige Jahre nach dem Ende des Hitlerregimes mochte man vielleicht auch nicht ausgerechnet Sympathie mit den kürzlich Besiegten empfinden; doch will man der damaligen deutschen Bevölkerung im Westen ähnliche Einsicht zugute halten? Oder waren die Triebfedern doch eher Feigheit und Faulheit? War es einfacher, die Ereignisse im Radio zu goutieren, sich darüber zu echauffieren, wie schlimm das alles sei, sich angenehm bräsig darin bestätigt zu fühlen, daß man im besseren System lebe, so, als sei das eigener Verdienst und nicht Geschenk der Westalliierten, selbst aber passiv zu bleiben, zum Glück unbeteiligt, nicht betroffen, wiewohl mancher Verwandte oder Bekannte im Osten hatte? Ist der Verdacht unberechtigt?
Das Urteil mag zu hart sein, doch die Phoenix-Dokumentation, Anlaß dieses Artikels, berichtet nachdenklich stimmendes, wenn auch nur in kurzen Ausrissen: daß beispielsweise bereits am 18. Juni die beginnenden Internationalen Filmfestspiele 1953 in Berlin die DDR-Ereignisse in der Berichterstattung des RIAS zur Fußnote degradierten, und das Interesse der Bevölkerung West-Berlins schnell anderweitig fesselten. Daß Weltstars wie Gary Cooper auf dem Kurfürstendamm interessanter waren (daß Mr. Cooper – der noch 1947 vor dem Un-American Activities Committee gegen angebliche kommunistische Einflüsse in Hollywood gesprochen hatte, sicherlich also kein Kommunistenfreund war – sich mutig und kritisch zu McCarthys Hexenjagden äußerte, konnte man ihm aber übelnehmen, ggf. mit dem Arbeiteraufstand als Alibi). Indizien, daß die Party vor der eigenen Nase und der – anders als drüben – wohlgefüllte Kühlschrank einfach interessanter waren als eigenes Engagement.
Herr Sathom will den Menschen im Westen, zumal den Berlinern, dabei gern zugute halten, daß die Ereignisse sie überraschten und auch – wenigstens in ihrem dramatischen Gehalt, tatsächlich gab es noch bis zum 17. Juli vereinzelt Proteste bzw. Streiks – zu schnell vorbei waren, um sich dazu intensiver zu positionieren. Und man muß natürlich fragen, was es denn gebracht hätte, wäre es zu solidarischem Handeln gekommen. Die Frage ist eitel, weil kaum zu beantworten („nichts“ erscheint zu einfach und hat den Ruch der Apologie) – der springende Punkt ist ein anderer.
Sicher: es mag Gründe dafür geben, daß es damals nicht zu spontaner Beteiligung seitens der West-Berliner oder anderweitig in Grenzgebieten kam, und dem nicht dabeigewesenen, der sich vielleicht nicht anders verhalten hätte, kann ein Urteil kaum zustehen. Hinzu kommt, daß heutige Massenkommunikationsmittel damals nicht existierten – wer sich tagsüber am Arbeitsplatz befand, erfuhr von den Unruhen vielelicht erst nach Feierabend. Dies mag ein Grund sein, daß am Checkpoint Charlie Wachgebäude der DDR brannten, die Grenztrupopen flüchteten, aber niemand die Grenze überschritt, um sich an Demonstrationen zu beteiligen. Und daß es nicht jedermanns Sache ist, Prügel zu riskieren, ist nachvollziehbar. Doch ein unangenehmer Beigeschmack bleibt. Die emotionale Verve, mit der das Thema „DDR“ auf bundesdeutscher Seite stets behandelt wurde, steht in kuriosem Mißverhältnis zur damaligen Passivität der Bevölkerung; daß man sich beinahe zeitgleich durchaus für die Berlinale begeistern konnte, deutet auf ein größeres Interesse am Glitzerevent als an den politischen Geschehnissen hin. Oder waren diese nicht so interessant, weil es den Demonstranten im Osten nicht um das emotional aufgeladene Thema der Wiedervereinigung ging, sondern um Verbesserungen vor Ort (immerhin wurde die Situation offenbar auch kaum zur Flucht genutzt)? Einen gewissen Mangel an Solidarität mit den „Brüdern und Schwestern“ zu konstatieren, kommt man nicht umhin.
Es paßt zum damaligen Mißverhältnis zwischen proklamierter Empörung und eigenem Desinteresse, daß die Reaktion der westdeutschen und West-Berliner Bevölkerung während jener Tage bis heute fast nie, und wenn, dann nur randständig, thematisiert wurde. Dokumentationen (die ja westlicher Produktion entstammen) zur Materie wirken meist so, als hätten die Menschen im Westen während des Aufstands quasi nicht existiert – sie kommen jedenfalls so gut wie nie in den Fokus. Sich stärker heraushalten als das eigene Verhältnis zu den Ereignissen nicht zu thematisieren, kann man wohl kaum: man exkulpiert sich von jeder Verpflichtung durch Abwesenheit, erklärt sich selbst in aller Selbstverständlichkeit nachträglich zu bloßem Publikum, macht sich als historisches Subjekt unsichtbar. Sollte dies doch Nachwirken einer Geisteshaltung, eines „das ist schlimm, doch abgesehen von verbaler Empörung, die uns nichts kostet, betrifft (und interessiert) es uns nicht“, sein?
Herr Sathom würde nicht so auf diesem seinem Verdacht herumreiten, erschiene ihm eine solche Einstellung nicht prototypisch für eine Haltung der bis zum Mauerfall im Westen Deutschlands und Berlins Lebenden, die ihm biographisch – da glücklicherweise selbst dort aufgewachsen – nicht unbekannt ist. Das krokdilstränenreiche Bedauern über das Schicksal der „Brüder und Schwestern“ im Osten, die Empörung über das DDR-Regime, seltsam gepaart mit jener herablassenden Schadenfreude, mit der auf die in komischen Klamotten herumlaufenden, Plastikautos fahrenden Typen „drüben“ mit Fingern gezeigt werden kann; die selbstgefällige Behaglichkeit, mit der man selbst am warmen Ofen sitzt und sich freut, im richtigen, besseren System zu leben, und sich dies als eigenen Verdienst zurechnet, während „die drüben“ es nicht auf die Reihe kriegen. Die Unverdrossenheit, mit der man von Wiedervereinigung schwatzen, es aber irgendwie für die Angelegenheit der Ostdeutschen halten konnte, diese herbeizuführen. Die Einfachheit, selbst das von ihrer Bevölkerung herbeigeführte Ende der DDR im Fernsehen anzuglotzen, sich in vielleicht echte, vielleicht künstliche Gefühle der Freudentrunkenheit, eingefärbt mit nationalen Erregungszuständen, hineinzusteigern – aber, Gott sei Dank, nicht teilnehmen zu müssen. Wie im Kino.