Die Kritik am transatlantischen Handelsabkommen TTIP hat mittlerweile die PR-Maschinerie der Befürworter anlaufen lassen. Zugleich ist ein ähnliches Freihandelsabkommen zwischen EU und Kanada (CETA) – in Arbeit? Längst beschlossen? Richtig geraten: ist geheim. Irgendwie jedenfalls. Bisher nicht veröffentlicht jedenfalls, auch wenn der Präsident der EU-Kommission und der kanadische Premier schon im Oktober 2013 Einigkeit in allen Punkten erklärten – weil der Text noch in Arbeit sei, deshalb. Was besonders kurios wirkt angesichts der Mahnung mancher TTIP-Verteidiger, man solle sich doch nicht aufregen, ehe man wisse, was drinsteht. Stehen wird. Falls man’s erfährt.
Gerade die Auseinandersetzung um das TTIP-Abkommen kann noch Jahre in Anspruch nehmen, wie Herrn Sathom eine E-Mail der Initiative Campact informiert. Immerhin – die Öffentlichkeit ist beunruhigt (wenn auch nicht sehr, und ist ja auch erstmal WM jetzt).
Schön, oder eher nicht schön. Denn während sich das bürgerliche Gemüt weiterhin mehr über dräuende Chlorhähnchen entsetzt als über die Aushöhlung der Demokratie durch Investitionsschutzklauseln, wird – hinter den mittlerweile zum geflügelten Wort avancierten verschlossenen Türen – längst das nächste Abkommen auf den Weg gebracht.
Wie kürzlich das BR-Magazin quer berichtete, wird aktuell auch über TiSA, eine Vereinbarung zur weitgehenden Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes, verhandelt. TiSA bietet Ähnliches und Bekanntes; so könnte, fürchten Kritiker, einer Privatisierung der Trinkwasserversorgung nach dem Widerstand gegen eine entsprechende EU-Initiative und der Kritik an TTIP die nächste Hintertür geöffnet werden. Hinzu kommen sogenannte Stillhalteklauseln. Anders als Investitionsschutzklauseln, die Unternehmen ermöglichen, mißliebige Gesetzgeber zu verklagen, würden diese bewirken, daß durch TiSA erfolgte Marktliberalisierungen zurückgenommen werden können.
Es geht bei den gemeinten „Dienstleistungen“ also nicht „nur“ um Friseure, sondern um Leistungen der Daseinsvorsorge (Straßenbau, Bildungswesen, Wasserversorgung etc.); daß unterzeichnende Staaten, so wenigstens die aktuelle Wunschliste, an erfolgte Liberalisierungsschritte auf unbegrenzte Zeit gebunden bleiben, damit also auch späteren Regierungen und Parlamenten jede Änderung oder Rücknahme unmöglich gemacht würde, sagt auch Einiges über diejenigen Politiker aus, die den Abschluß solcher Abkommen betreiben – berauben sie doch zukünftige Generationen von Wählern der Souveränität, nehmen ihnen Möglichkeiten zur Gestaltung ihrer noch kommenden Gegenwart vorab aus der Hand.
Es scheint, als brächte jeder in die Kritik geratene Versuch solcher Entwicklungen nur den nächsten hervor, sofern solche Vorstöße nicht ohnehin gleichzeitig und ständig stattfinden. Die nimmermüde Umtriebigkeit, mit der wirtschaftsliberale Interessen gegen die der Öffentlichkeit verfolgt werden, erinnert selbst Herrn Sathom als Agnostiker gelegentlich an einen Bibelvers:
Denn sie schlafen nicht, ehe sie Böses tun; der Schlaf flieht sie, bis sie Verbrechen begehen.
(Sprüche 4, 16; Einheitsübersetzung von bibleserver.com)
Zugegeben, eine ältere Übersetzung (Denn jene schlafen nicht, wenn sie nicht übel getan, und sie ruhen nicht, wenn sie nicht Schaden getan) ist sprachlich hübscher, aber was soll’s. Nun muß man nicht gleich zur Kategorie des „Bösen“ greifen, und einen projektionsflächentauglichen Mummenschanz als Gegner aufbauen – letztlich geht es hier um Interessen, u.a. das an Profit gegen das an Demokratie; doch die ameisengleiche Betriebsamkeit derjenigen, die jeden Bereich menschlichen Lebens dem Zugriff wirtschaftlicher Verwertung zugänglich machen, müßten zu diesem Zweck auch parlamentarische bzw. demokratische Institutionen ausgehebelt werden, beschreibt das Zitat recht treffend. Ihre Emsigkeit scheint nie nachzulassen, und sie selbst nie zu ruhen; als könnten sie es wirklich nicht, ehe nicht alles, das existiert, in Mikromärkte zerlegt wurde.
Die Möglichkeit zu immer neuen Vorstößen dieser Art ergibt sich allerdings auch daraus, daß Politiker unwillens oder unfähig scheinen, der angestrebten Minderung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten Grenzen zu setzen: alles, was sich gegen die marktwirtschaftliche Totalnutzung sträubt, bleibt verhandelbar (nur dort, wo sich das rein ökonomische Interesse durchgesetzt hat, soll es unverhandelbar werden).
Man fühlt sich gelegentlich versucht, die These aufzustellen, daß die Demokratie Rückzugsgefechte gegen eine aufkommende feudalkapitalistische Ständegesellschaft führt. Hinweise darauf, daß wir auf eine Gesellschaftsordung zusteuern, die zwar formal nicht feudalistisch verfaßt ist, real jedoch ähnliche Zustände aufweist, gibt es allerdings genug – von der Einschränkung öffentlicher Räume bis hin zur einseitigen Akkumulation von Finanzkapital, das mehr und mehr nur noch durch Erbschaft zugänglich wird, von dessen Erwerb (und entsprechendem gesellschaftlichen „Aufstieg“, zumal wenn das Bildungswesen privatisiert, und teurer Luxus wird) also immer größere Kreise ausgeschlossen werden.
Auch daß immer wieder vorgeschlagen wird, statt einer steuerlichen Beteiligung der „Reichen“ an deren freiwillige Spendenbereitschaft zu appellieren (zuletzt in Österreich zur Finanzierung des Bildungswesens), wirkt beinahe wie Sehnsucht nach vergangener Fürstenherrschaft – zumindest wie Ratlosigkeit angesichts der Machtfülle des akkumulierten Kapitals, die es längst gegenüber den Regierungen exterritorialisiert, unantastbar macht. Den Vertretern der Öffentlichkeit fällt nichts ein, oder sie wagen nichts anderes, als die Bitte um nach Wohlwollen und Gutdünken verteilte Gaben, die zufällig vorbeischauende Mäzene verteilen, ja nachdem, ob sie lustig sind, oder welchen Einfluß sie dadurch nehmen können – die Allgemeinheit als Bittsteller, die nicht jeden nach seinen Kräften in die Pflicht nimmt, sondern höflich bettelt.
Neben dem Vergleich zu feudalen Herrschaftssystemen (und es sind dies Vergleiche, keine Behauptung von Identität) wäre womöglich ein weiterer statthaft: der zum Kolonialismus. Was auf das hier behandelte Thema bezogen hieße, daß nicht mehr die „Dritte Welt“ ausbeutet wird; sondern daß, wenn Trinkwasservorkommen etc. Besitz global agierender Wirtschaftsimperien werden, die über Gesundheit, Arbeitnehmerrechte usw. der Ortsansässigen verfügen können, wie dereinst Großgrundbesitzer, die Kolonialisierung der „Ersten Welt“ begonnen hat.
Vorbereitungen zur Verteidigung solcher Ordnungen (die, wie gesagt, feudalen bzw. kolonialen in Zügen gleichen oder ähneln, ohne diesen völlig zu entsprechen) werden womöglich schon getroffen. Nicht ausschließlich, vielleicht sogar am wenigsten um Terrorbekämpfung geht es bei der zunehmenden Sammlung und Analyse von big data – Andersdenkende, friedlich sich Engagierende und Protestbewegungen sind das Ziel. Eine Ausrichtung mit Tradition allerdings.
Allerdings. Ja, es gibt noch ein allerdings, ein großes sogar.
Die Klage über nicht enden wollende Bestrebungen, Freiheit und Demokratie zugunsten einer merkantilen Plutokratie abzuschaffen, ist nämlich insofern eitel, als uns – den Menschen der westlichen Demokratien, insbesondere der „bürgerlichen Mitte“ (einer Gruppe also, die qua Selbstbenennung implizit ausdrückt, daß sie alle am „Rand“ der Gesellschaft Hausenden nicht als „Bürger“, jedenfalls nicht als vollwertige, ansieht) – all das ganz recht war, so lange wir uns davon eigenen, ins Unendliche wachsenden Wohlstand versprachen. Eben hofften, selbst zu den Profiteuren einer Entwicklung zu zählen, deren „Verlierer“ bloß andere sein würden – mit wohligem Schaudern zu betrachtende Absteiger, deren Beschwerden sich als larmoyantes Wehklagen abtun ließen.
Seit in den 1990er Jahren die Rede vom „Ende der Geschichte“, vom Kapitalismus als endgültig bester aller Weltordnungen aufkam, haben wir deren Siegeszug, auch dort, wo er auf unsere Kosten ging, umarmt, Sozialabbau, Niedriglöhne und andere Begleiterscheinungen hingenommen, gar gefeiert – und ob Afrikaner Durst leiden, während nebenan internationale Großkonzerne Trinkwasser für den Export fördern, oder dabei US-amerikanische Naturschutzgebiete trockenlegen, geht uns gewöhnlich, um eine „bildungsferne“ Formulierung zu verwenden, am Arsch vorbei. Wie auch anders? Sklavenarbeit auf Kakaoplantagen stört uns schließlich auch nicht, so lange wir uns mit billiger Schokolade die wohlverdiente Diabetes anfressen können: wenigstens soviel steht dem zivilisierten Wohlstandsbürger ja wohl zu.
Vielleicht flüchten deswegen einige (auch „aufgeklärte“ Herren Professoren) neuerdings wieder in plumpe Nationalismen, wenn sie sich an „Europa“ (mit allen Klischees, für die das Wort ihnen herhalten muß) stören: Weil jene bürgerlich-professoralen Wagenburgbauer an einer kritischen Analyse von Strukturen und Dynamiken gar nicht interessiert sind, sondern lediglich daran, daß diese gefälligst nur zum Nachteil der anderen funktionieren sollen. Womit sie es wiederum denjenigen leicht machen, die nun pauschal jede Kritik an lobbybeeinflußter europäischer Politik in einen Topf mit rechtspopulistischem Unsinn werfen können.
Der noch immer kolonialistische Umgang mit anderen Teilen der Welt kümmert uns wenig; erst jetzt, da wir selbst kolonisiert werden sollen, nachdem anderenorts das Maximum an Wertschöpfung erreicht wurde, werden wir munter. Und merken: Es gibt keine „dritte“ Welt. Es ist dieselbe, in der auch wir leben – und jederzeit drankommen können.
Beschämend, wenn das eben nicht zum Impuls führt, im Sinne aller Menschen gegenzusteuern; sondern zu dem, nach dem Motto „Wirtschaftsflüchtlinge müssen draußen bleiben“ unsere Privilegien weiterhin auf Kosten der restlichen Menschheit erhalten zu wollen. Der Phantasie, daß das möglich sei (was es nicht ist, denn wir stehen nun einmal auf der Liste der Konzerne; insoweit sind diese ganz egalitär, tatsächlich mehr als wir), verdanken die rechten und konservativ-antieuropäischen Sieger der Europawahlen ihre Popularität.