:: Nachtgedanken zu „PEGIDA“

Die Aktionen der „Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“ („PEGIDA“) riefen anfangs hastig wirkende Erklärungsversuche, inzwischen, endlich, berechtigte Empörung und entschlossenen Widerstand hervor.

Die Deutungsmuster der Erklärungen sind altbewährt, reichen von „dumpfen“ Bedrohungsgefühlen und Ressentiments über das lustige Ostdeutschen-Bashing in der heute-show des ZDF, als ob es in den alten Bundesländern keine Ableger gäbe, bis hin zur Annahme, die Teilnehmer aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten seien irgendwie mit irgendwas unzufrieden, und lenkten ihre Wut auf Migranten um. Daran zumindest ist etwas dran. Als Erklärung des Phänomens „PEGIDA“jedoch ist diese Feststellung des Offensichtlichen unzureichend.

Herrn Sathom scheint, daß bei alledem ein wesentlicher Aspekt unbemerkt bleibt. Vielleicht, weil er der Wahrnehmung entzogen ist, einen blinden psychologischen Fleck darstellt; oder nicht wahrgenommen werden soll.

Richtig ist, daß die Teilnehmer der PEGIDA-Demonstrationen sich aus Bürgern unterschiedlichster Motivation und politischer Einstellung rekrutieren; daß sie aber offenbar in fremdenfeindlichen Ängsten den kleinsten gemeinsamen Nenner finden. Dumpf, irrational, weil unbegründet, ist die geäußerte Angst vor einer „Islamisierung“ sicher – nur, daß das nichts erklärt. Jedenfalls nicht, wie die ganz unterschiedlichen Ängste und Unzufriedenheiten dieser Menschen sich gemeinsam an ein Motiv hängen können; auch nicht, wieso sie gegen ein nachweislich nicht existentes Problem angehen sollten, was in Bezug auf ihre eigentlichen Klagen kontraproduktiv und wohl kaum „zielführend“ ist. Daß in der Gesellschaft xenophobe Vorstellungen vorhanden sind, gewissermaßen gebrauchsfertig vorliegen, ist unleugbar; ebenso, daß es einen latenten – oder auch gar nicht so latenten – Rassismus in Deutschland gibt. Daß aber jemand, der beispielsweise sozialen Abstieg befürchtet, oder gerade erleidet, zwingend auf rassistische Erklärungsmodelle verfallen muß (statt, beispielsweise, auf eine rationale Kapitalismuskritik), wird dadurch nicht erklärt – es sei denn, man nimmt pauschal an, daß alle Beteiligten Idioten sind. Eine Annahme, die – möglicherweise – Teil des Problems ist.

Dazu einige Vermutungen.

Sie sollen das, was da unter dem Kürzel „PEGIDA“ veranstaltet wird, weder beschönigen noch mit verständnisvoller Nachsicht behandeln; sondern drücken die Befürchtung aus, daß sich hier etwas äußert, das nicht nur Sache einiger, irgendwie zufällig halt fremdenfeindlicher Trottel ist, sondern Anzeichen eines gesellschaftlichen Zustands (oder Mißstands), der auch in die Reihen jener hineinreicht, die sich besten Gewissens als Gegner PEGIDAs, als tolerante, weltoffene Bürger betrachten.

Herr Sathom möchte seine Verdachtsmomente zunächst einzeln benennen und anschließend ausführlich erläutern. Sie lauten:

Erstens, die Teilnehmer der PEGIDA-Demonstrationen und ihre Gegner gleichen sich in einer Hinsicht. Beide teilen etwas; nämlich eine Haltung, die in unserer Gesellschaft maßgebliches Werkzeug der Errichtung und Aufrechterhaltung von Herrschaft, sowie der Abgrenzung sozialer Schichten darstellt. Es ist die Verachtung des anderen, insbesondere dessen, der zwar als bedrohlich gemalt, eigentlich aber als schwächer, wehrloser – also gefahrlos angreifbar – wahrgenommen wird.

Die PEGIDA-Bewegten rekrutieren sich – wenigstens teilweise – aus solchen Verachteten, den „Verlierern“ am „Rand“ Der Gesellschaft, zum anderen Teil als solchen, die fürchten, durch Abstieg bald der Verachtung anheimzufallen; doch sie zweifeln den Mechanismus der Verachtung nicht an; protestieren nicht dagegen, daß sie als sozial Deklassierte von den „höheren“ Schichten, dem Establishment, den „Eliten“ verachtet und unwürdig behandelt werden, noch dagegen, daß diese Form der Verachtung in unserer Gesellschaft überhaupt prägend für den Umgang geworden ist. Sie fordern schlicht, statt zu den Verachteten zu den Verächtern gehören zu dürfen. Sie müssen zu diesem Zweck eine Gruppe finden, von der sie intuitiv hoffen, diese sei gesellschaftlich noch weniger akzeptiert als sie selbst sind, oder sich wähnen.

Zweitens geht es ihnen folgerichtig nicht um eine Veränderung des Gesellschaftssystems bzw. der Herrschafts- und Verteilungsverhältnisse; noch um eine Änderung der Mechanismen (u.a. Verächtlichmachung), mittels derer diese gefestigt werden. Sie können daher gar nicht gegen die eigentlichen Ursachen ihrer Unzufriedenheit angehen; dazu müßten sie das System infrage stellen, innerhalb dessen sie ja selbst etabliert sein, bzw. wieder werden möchten. Insofern, als sie die Haltung der Verachtung teilen, d.h. zustimmen, daß es verachtenswerte Andere gebe, ist ihnen die Wahrnehmung derjenigen, von denen sie verachtet werden, als ihrem eigentlichen Gegner tatsächlich unmöglich. Psychologisch unmöglich, unabhängig von ihrer Intelligenz oder „Bildung“. Denn: sie wollen ja deren Platz einnehmen, oder sich wenigstens unter sie reihen.

Das Privileg, verachten zu dürfen, das die Eliten ihnen gegenüber ausüben, reklamieren sie für sich selbst.

Drittens: Daß sich Menschen, die aus verschiedensten Gründen erbittert, unzufrieden oder wütend sind, unter dem Banner radikaler Thesen oder im Gefolge sogenannter „Rattenfänger“ sammeln (Sprache der Verachtung: sie erklärt die Eingefangenen zu Ratten), daß sie sich dabei bizarre Verschwörungstheorien oder fremdenfeindliche Parolen zueigen machen, zu Recht diskreditierte Weltdeutungsmodelle; daß sie also in einem höchst dubiosen Umfeld in Erscheinung treten und sich äußern, stabilisiert gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Der gemeinsame Nenner des Rassismus, den die Gesellschaft als Auffangbecken bereithält und am Leben erhält (etwa, indem Angela Merkel im Verlauf der Eurokrise die Griechen pauschal als faul verunglimpfte), erfüllt mehrere Zwecke. Die rassistische Thesen übernehmen, sind an der Wahrnehmung der wirklichen Ursachen ihrer Probleme gehindert; sie sind leicht zu verurteilen, ohne nach diesen Ursachen zu fragen (sofern Politiker davon reden, ihre „Sorgen ernst zu nehmen“, können sie auf die rassistischen, unbegründeten Sorgen Bezug nehmen, statt auf die wirklichen); sie sind, unschädlich gemacht, da diskreditiert, in einem Auffangbecken versammelt, das ihren Protest entschärft und verpuffen läßt.

Der Nutzen solcher Proteste ist also der, daß sie Menschen mit unterschiedlichsten Anlässen zur Unzufriedenheit zusammenführen, in Gruppen, die leicht als bösartige Spinner abgehakt werden können; denen zuzuhören also unnötig ist (es sei denn, um eine restriktive Flüchtlingspolitik zu rechtfertigen, die jedoch die eigentlichen Probleme der meisten Protestierer weder löst, noch überhaupt berührt). Während von jenen, die sich nun als Islamgegner echauffieren, zugleich nicht mehr befürchtet werden muß, daß sie sich anderweitig engagieren, womöglich gar wirklich im Sinn ihrer Interessen.

Viertens (falls Sie noch dabei sind): Die PEGIDA-Demonstranten, irgendwelche andere Vor-Ort-Protestler gegen Flüchtlingsunterkünfte, liefern ein öffentliches Schauspiel; eines, das Herrschafts- und Sozialverhältnisse spiegelt, und zugleich rechtfertigt. Das Schauspiel nützt dem Publikum, das die Darbietung ablehnt, mehr als den Darstellern, auch wenn beiden Seiten der Charakter des inszenierten Spiels nicht bewußt ist, sondern dieses sich dynamisch aus ihren Haltungen/Einstellungen entwickelt.

Indem sich sozial Deklassierte durch Äußerung rassistischer Thesen diskreditieren, bestätigen sie selbst ungewollt den Anspruch der „höheren“ Klassen, sie zu unterdrücken, zu maßregeln, ihre Anliegen als ungerechtfertigt abzuhaken: der Mob muß in Schach gehalten werden.

Begründung

Einen von mehreren Ausgangspunkten der Thesen liefert die schon vor einiger Zeit auf zdf_neo gelaufene Dokumentation Der Rassist in uns, die ein Sozialexperiment begleitet. In dessen Verlauf gelingt es den Versuchsleitern, in einer Gruppe von Migranten binnen kürzester Zeit rassistische Vorurteile gegen eine andere Gruppe aufzubauen. Die „Opfer“ des Vorurteils ihrerseits, allesamt Einheimische, beginnen nach ebenso kurzer Zeit, sich den Vorurteilen entsprechend zu verhalten, oder vielmehr: sich so zu verhalten, daß die kurzzeitig rassistisch „gemachte“ Gruppe ihr Vorurteil bestätigt sieht. Wie gelingt das?

Den Diskriminierten werden sachlich falsche Vorwürfe gemacht, gegen die sie zunächst noch protestieren; der „Rassistengruppe“ jedoch wurde vorab mitgeteilt, die anderen wären unfähig, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, und würden diese durch Ausreden von sich abwälzen wollen. Den Selbstbehauptungsversuch der Diskriminierten deuten ihre „Gegner“ dann entsprechend der in ihnen geweckten Erwartung als Suche nach Ausreden etc.

Das Experiment selbst hält Herr Sathom für fragwürdig, zumal die traumatisierende Wirkung auf die Diskriminierten ihm keineswegs mit dem Schlußgespräch, bei dem alles aufgeklärt wurde, erledigt schien; insbesondere aber fiel ihm auf, daß die rassistischen Vorurteile, die im Experiment angewendet wurden, nahezu identisch – teils bis auf den Wortlaut – mit solchen waren, die auch in Bezug auf Arme, Hartz-IV-Empfänger, Arbeitslose, kurz: sozial schwächere Gruppen verbreitet sind. Den Teilnehmern, die dazu gebracht wurden, ihre Gegenüber rassistisch zu behandeln – und dies, obwohl sie selbst Diskriminierung erlebt hatten, und potentiell empathisch hätten sein können – wurde wiederum nahegelegt, das Ganze als heilsame pädagogische Erfahrung für die Einheimischen zu betrachten, die ja sonst ihrerseits sich rassistisch verhalten würden; und sich selbst als diejenigen wahrzunehmen, die den anderen eine insofern wohlverdiente Lehre erteilen (was voraussetzt, daß die Migranten auch dazu gebracht werden mußten, alle Einheimischen als Rassisten anzusehen, obwohl sie diese persönlich nicht kannten).

Ihnen wurde also suggeriert, sich eigentlich als Wohltäter der Herabgewürdigten wahrzunehmen, als deren wohlwollende Lehrer. Es scheint zumindest nicht unplausibel, daß diejenigen, die von Amts wegen nach dem Motto „fordern und fördern“ mit Arbeitslosen umgehen, sich ähnlich erleben.

Herr Sathom hält diese Übereinstimmungen keineswegs für zufällig. Da das Experiment bereits aus den 1960er Jahren stammt, auch wenn es hier neu aufgelegt wurde, findet er zumindest die Spekulation zulässig, daß die Vorstellungen, die in den letzten Jahrzehnten systematisch in Medien, politischen Reden usw. über die „Sozialschmarotzer“ aus dem Prekariat mit ihrer Bildungsferne etabliert wurden, auch von „Denkfabriken“ und PR-Herolden wirtschaftsfreundlicher Lobbies gestreut wurden, die auf solche wissenschaftlichen Erkenntnisse zugreifen. Unabhängig davon, ob dieser Verdacht zutrifft, bleibt festzuhalten: Die verächtlichen Vorstellungen, die in „höheren“ oder „mittleren“ Schichten gegen den gesellschaftlichen „Rand“ gehegt werden, gleichen rassistischen Vorurteilen inhaltlich und sprachlich frappierend.

Eine weitere Beobachtung.

Protestieren Menschen aggressiv gegen Asylbewerberheime, erregt dies – zu recht – mediale Aufmerksamkeit und Ablehnung. Statt finden solche Proteste jedoch zumeist in sozial schlechter gestellten Wohngegenden, oder in der unteren Mittelschicht, also dort, wo sozialer Abstieg vielleicht noch nicht stattfindet, womöglich nicht einmal droht, jedoch befürchtet wird.

Sollen Flüchtlinge in wohlhabenden Wohngegenden angesiedelt werden, gehen deren Bewohner nicht auf die Straße – sie klagen, zivilisierter, vor Gericht. Das offizielle Argument: die Anwesenheit der Asylsuchenden würde den Immobilienwert ihrer Grundstücke mindern.

Der mediale und politische Aufschrei fehlt in solchen Fällen nicht ganz, fällt jedoch deutlich leiser aus.

Lassen wir einmal beiseite, daß hier das Recht von Menschen, irgendwo anwesend zu sein, ökonomischen Erwägungen untergeordnet wird, besser: daß ihre Menschenwürde und ihr Lebensrecht nur nach Maßgabe ihrer Verträglichkeit mit pekuniären Erwägungen, sozusagen eingeschränkt, gültig sind. Schließlich baut man ja im Zuge der Gentrifizierung inzwischen auch Häuser als „Anlage“, also Gebäude, in denen Geld wohnen darf anstelle von Menschen (und gewiß keine asylsuchenden Menschen).

Wichtiger für unseren Zusammenhang: daß diejenigen, die sich nicht nur für die finanzielle, sondern auch intellektuelle, kulturelle und sogar moralische Elite halten, und den Mob der Straße vermutlich rechtschaffen verabscheuen – daß also eben diese Menschen offenbar der Auffassung sind, Flüchtlinge wären ausgerechnet beim verachteten „Pöbel“ da untergebracht, wo sie hingehören; hin passen. Daß die „Leistungsträger“ also insgeheim beide – den Migranten und den „eingeborenen“ Unterschichtler – gleichermaßen verachten. Glauben, diese beiden Gruppen paßten eher zueinander, als zu ihnen.

Gilt ihre Verachtung dem sozial abgehängten auch darum, weil dieser die Ausländer ablehnt, wollen sie letztere doch auch lieber nicht um sich haben; sollen diese beiden Sorten von Schmutzfinken doch sehen, wie sie miteinander klarkommen.

Ihre rassistischen Vorurteile sind kaum schwächer ausgeprägt als die jenes „Pöbels“; sie sind jedoch klug genug, sie nicht zu äußern. Und sie verfügen über andere Mittel als jener. Man darf zumindest spekulieren, daß ihre Verachtung nicht durchweg dem Rassismus des „Mobs“ gilt, sondern nur seinen unzulänglichen Mitteln und der gesellschaftlichen Position, die seinen Angehörigen eben nur diese Mittel läßt.

Dafür, daß Herr Sathom sich das nicht bloß ausdenkt, gibt es immerhin Indizien. In der am 02.12.2014 Zeit ausgestrahlten Folge von Pelzig hält sich zeigte der hervorragende Herr Barwasser Straßeninterviews aus dem wohlhabenden Hamburger Viertel Harvestehude, dessen Anwohner ihre Ablehnung dort geplanter Asylunterkünfte begründeten (etwa ab 27:18 min). Die Antworten entsprachen erschreckend dem, was Herr Sathom erwartet hätte – etwa, daß es für die Flüchtlinge vielleicht besser gewesen wäre, bei „Ihresgleichen“ unterzukommen. Unter im Wesentlichen gaben die Befragten ihrer Auffassung Ausdruck, daß diese armen Schlucker aus Syrien oder wo die herkommen doch zu irgendwelchen anderen armen Schluckern besser passen würden, als ausgerechnet in diese schicke Gegend, wo das Einkaufen doch so teuer ist.

Zurück zu den Eingangsthesen.

Zur ersten:

Die Menschen in unserer (kapitalistischen) Gesellschaft, meint Herr Sathom, werden zur Verachtung erzogen; dessen, der als der Schwächere gilt. Wobei Schwäche zunächst nichts weiter bedeutet, als daß der betreffende Personenkreis gefahrlos angegriffen werden kann, körperlich oder verbal, und dagegen wehrlos ist, da zum Schweigen verdammt: einmal, weil er keine Lobby, keine öffentliche Stimme hat (es sei denn, er verschaffte sie sich durch Aufruhr, und bestätigte damit eines der gegen ihn gehegten Vorurteile, wie kürzlich Flüchtlinge in Berlin, jetzt hingegen PEGIDA-Demonstranten); und zum anderen, weil bereits beschlossen wurde, daß er nichts von Belang zu sagen hat (er ist ja nur verantwortungsscheu usw.).

Der Reiche, der Angehörige der akademischen oder kulturellen Elite, verachtet die mehr oder weniger wohlhabende Mittelschicht als einen Haufen Spießbürger; diese den Hartz-IV-Empfänger, den Arbeitslosen, den „Sozialschmarotzer“ als bildungsunwillig, verdummt, irrational – kurz, dumpfen Pöbel; dessen Angehörige schließlich sind gehalten, sich gegen diejenigen zu wenden, die sie als noch wehrloser wahrnehmen: Migranten.

Der Schwächere also ist zunächst der materiell schlechter gestellte, dem jedoch Eigenschaften zugewiesen werden, die seine Stellung als Resultat eines ihm inhärenten Mangels deuten.

Zur zweiten:

Die PEGIDA-Demosntranten zweifeln dieses System der Verachtung nicht an; sie fordern ja, daß statt ihrer Andere verachtet, gefürchtet, diffamiert werden. Die sich da äußern – sofern sie keine abstiegsängstlichen Mittelschichtler sind, sondern sozial bereits Deklassierte – sind in den letzten Jahren systematisch verleumdet und beschämt worden, als faul, wehleidig, sozialneidisch u.v.m. Den noch nicht abgestiegenen droht zumindest solche Beschämung. Sie wollen sich nicht länger schämen – oder erst gar nicht in die Lage kommen, es zu sollen. Das bekannte „das wird man ja noch sagen dürfen“ drückt es aus: in ihrem Bestreben, sich nicht schämen zu müssen; sich vielmehr schamlos verhalten („das sagen“) zu dürfen, eben wie jene, die mit ihnen ohne jede Scham umgingen, die dazu nämlich die Macht haben, greifen sie zur im höchsten Maße menschenverachtenden Verleumdung, die unsere Gesellschaft kennt: der rassistischen.

Es ist, als wollten sie sagen: „Nicht wir sind der Abschaum, sondern die da“; gewissermaßen reklamieren sie das Herrschaftsrecht auf Verunglimpfung und Verächtlichmachung, das an ihnen geübt wurde, nun für sich. Als versuchten sie die Schamlosigkeit, die den „über“ ihnen stehenden Gesellschaftsschichten „gehört“, in Besitz zu nehmen – oder wenigstens anteilig überlassen zu bekommen.

Zur dritten und vierten:

Täuschen wir uns nicht. Rassistische und soziale Vorurteile sind, wie gesagt, beinahe deckungsgleich; und auch Oliver Welke irrt, wenn er in der vorletzten heute-show des Jahres 2014 feststellt, daß Rechtsaußen-Positionen vom „Rand“ in die „Mitte“ der Gesellschaft drängen. In dieser Mitte liegen sie längst vor; die Leichtigkeit, mit der fremdenfeindliche Sentiments als Erklärungsmuster für eine wahrgenommene Misere aktiviert werden können, zeigt, daß sie latent überall vorrätig sind. Schon eher sprechen die Rassisten aus, was aus der gesellschaftlichen Mitte in die Ränder sickert, am Quell und Ursprung aber nie zugegeben würde. Denn: ohne das Gefühl einer weit über die Eigengruppe hinausgehenden, stillschweigenden Zustimmung würden sie dergleichen nicht wagen. Und in gewisser Weise ist die Sammlung gesellschaftlichen Protestpotentials in despektierlichen Zusammenrottungen durchaus erwünscht.

Im Aktionismus der Straße können die besser gestellten, gebildeten, arrivierten (insgesamt: die besser angepassten) Mitglieder der Gesellschaft ihre eigene Menschenverachtung externalisiert am Werk sehen, und zugleich deren Akteure verachten; sich ihrer eigenen Verachtung erfreuen, diese bestätigt, gerechtfertigt finden, sie dabei jedoch weiterhin verdrängen, und sich als bessere Menschen fühlen.

Der Mob tobt gegen Migranten? Verabscheuen wir ihn. Wie erbärmlich er da herumstrolcht auf der Suche nach Opfern, was wir nicht nötig haben, haben wir doch längst ein Opfer: ihn. Empören wir uns! Daß der da krakeelt, während wir, die besseren Menschen, uns gemütlich im Opernhaus delektieren wollen; daß er uns dabei stört, die wir ihn und die Flüchtlinge doch in aller Ruhe wie den gleichen Dreck behandeln könnten, wenn er bloß das Maul hielte.

Was das öffentliche Schauspiel dem Establishment leistet, ist also: verachten zu dürfen, und zwar jene, die verachten, dafür, daß sie es tun; daß sie sich das Recht dazu anmaßen, das doch das des Höherstehenden ist. Das Recht zu verachten unterscheidet Herrscher und Beherrschte.

Die allgemein vorhandene Verachtung des Schwächeren agieren die Demonstranten stellvertretend für alle gesellschaftlichen Schichten aus; mangels sozialen Status greifen sie zur letzten Begründung, die ihnen bleibt: ihrer vermeintlichen Höherwertigkeit qua Geburt, ihrem Rassismus. Ihrem Publikum ermöglichen sie damit, sich in angemessener Empörung von dem zu distanzieren, was da an menschenverachtender Scheiße geschwafelt wird; eben diese Menschenverachtung jedoch selbst zu agieren, indem es sich über den Mob entsetzt. Daß dieses Publikum selbst uneingestandene rassistische Vorstellungen hegt, die dieser Mob marionettenhaft darstellt, kann zumindest gemutmaßt werden. Auf jeden Fall aber kann es in Kommentaren, Deutungen und Analysen des Geschehens seinen Herrschaftsanspruch bestätigen – seine Überlegenheit über die, die da als Pöbel durch die Straßen poltern. Mithin also auch seinen eigenen sozialen Status legitimieren, der ihm ermöglicht zu entscheiden, wo der Flüchtling wohnen solle – bei den potentiellen Brandschatzern nebenan nämlich, aber bloß nicht bei ihnen selbst um die Ecke.

Daß hier ein Schauspiel inszeniert wird, ist weder den Akteuren auf der Straße noch deren Publikum bewußt; muß es wenigstens mit Ausnahme einiger Rädelsführer der Demonstrationen, und einzelner Angehöriger des politischen Establishments, auch nicht notwendig sein. Seinen Zweck erfüllt es gerade darum um so besser.

Die Demonstranten verschieben ihre Ängste, ihre Wut und Frustration auf einen Feind, den es nicht gibt, fordern somit auch nicht die Lösung ihrer eigentlichen Probleme, und stellen weder Machtgefüge noch Wirtschaftssystem grundsätzlich in Frage. Ihre sinnlose Attacke bestätigt das Publikum in seiner abwertenden Haltung ihnen gegenüber; somit auch darin, daß ihnen nicht geholfen werden, sondern sie bekämpft, oder verächtlich gemacht werden müßten.

Insgesamt wird die Debatte auf ein Scheinthema – das der Migration – verschoben. Die Auseinandersetzung findet auf Nebenschauplätzen statt: vermeintliche Gefahr einer Islamisierung hier, Abwehr rassistischer Bedrohung dort. Was Menschen anfällig für menschenverachtende Ideologien macht, warum rassistische Vorstellungsmotive auch heute noch als Weltdeutungsmuster schnell parat sind, ob der Zerfall der Zivilisation nicht bereits beginnt, wenn die gut aufgestellte „Mitte“ einer Gesellschaft den „Rand“ gleichgültig dem Elend preisgibt, und sich damit selbst als verroht erweist, gerät zu keinem Zeitpunkt in den Fokus.

Was im Schauspiel inszeniert wird, sind die gesellschaftlichen Macht- und Verteilungsverhältnisse und die Stereotypen, Klischees, ansozialisierten Vorstellungen, auf denen sie beruhen. Wodurch das, was sich da als Protest gibt, diese Verhältnisse stabilisiert, satt sie grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.

Daß es sich auf Seiten des Publikums nicht bloß um einen Herrschaftsgestus handelt, sondern um Ausdruck einer realen Machtposition, erweist sich daran, daß die „höheren“, die „gebildeten“ Schichten dafür sorgen und davon profitieren, daß das Bildungssystem sie bevorzugt; mangelnde Bildung (die den Demonstranten vorgeworfen wird; sie erweisen sich als dumm, indem sie Sündenböcke suchen) erzeugen sie also ganz wirklich. Der Demonstrant ist einer, weil er ohnmächtig ist; fürchtet eine „Islamisierung“, weil er unfähig gemacht wurde, die wirklichen Ursachen seiner Lage zu durchschauen. Das macht ihn lächerlich, wenn auch gefährlich; aber eben auch real zum Objekt der Verhältnisse, nicht zum Subjekt.

Wenn Sigmar Gabriel den PEGIDA-Demonstranten entgegenhält, die „richtigen Einwanderer“ seien durchaus erwünscht, legt er davon Zeugnis ab, daß es auch ihm nicht um Hilfe für Schwache geht; es gibt eben auch „falsche“ Einwanderer, die gefälligst verrecken dürfen. Auch hier werden Menschen nach ihrem Wert eingeteilt, der sich daran bemißt, was sie Deutschland nützen; sind sie „nur“ Wirtschaftsflüchtlinge, weil die Ökonomie ihres Landes vielleicht auch mit deutschen Waffen zerbombt wurde, haben sie uns schon genug genützt, bleiben Sie mal ruhig zuhause, vielen Dank.

Und SPD-Bundesvize Ralf Stegner hat recht, wenn er sagt, die PEGIDA-Demonstranten seien keineswegs arglose Bürger; doch er täuscht sich, denkt im Deutungsrahmen schichtspezifischer Stereotypen – oder bringt die Heuchelei seiner Schicht zum Ausdruck – wenn er mit dem Hinweis, „die Mitte der Gesellschaft“ demonstriere nicht gegen Flüchtlinge, wiederum deren Anderssein behauptet. Diese Mitte demonstriert vielleicht nicht; doch so anders ist sie keineswegs. Weder was ihr Verhältnis zu Flüchtlingen, noch zu den Deklassierten angeht. Ihr Zynismus gilt beiden. Sofern sie nur deswegen nicht demonstriert, weil sie es nicht nötig hat, etwa, weil sie sich Prozesse leisten kann, gilt ihre Verachtung des Mobs eher seinen Mitteln, als seiner Intention.

Die Rede vom „Sammelbecken“, in dem asoziale, antidemokratische, kurz, menschenfeindliche Elemente sich finden, ist daher verräterisch: da sammelt sich eben auch die Scheiße des Hochschullehrers, des Grünen-Politikers, des ganz und gar toleranten Intellektuellen, all das Gehässige, das diese sich nie eingestehen würden, stellvertretend ausagiert von den Schwächsten, die auf ihresgleichen losgehen.

Schluß

Machen wir uns nichts vor: was wirklich Not täte, wäre die Erkenntnis, daß jeder Mensch wertvoll ist, vollkommen unabhängig von seiner Herkunft oder seinem Nutzen als „Humankapital“. Das ist bis auf weiteres nicht zu erwarten. Was aber nicht heißt, daß es nicht Programm sein sollte.

Zu befürchten steht, daß es dazu nicht kommt. Daß stattdessen PEGIDA mit zunehmender Ablehnung wieder von den Straßen verschwinden wird, das Problem unsichtbar, aber ungelöst bleiben. Das Establishment wird aufatmen: Fall erledigt, nichts mehr zu sehen. Schulterklopfen. Die Zivilgesellschaft hat sich bewährt. Dem Rassismus die Stirn geboten, um den es ja ausschließlich ging – alles in Ordnung.

Die wirklichen Ursachen des Grolls der Demonstranten werden bleiben; der Groll selbst ebenfalls. Auch der Rassismus, den die Gesellschaft gut versteckt in seiner Kloake nährt, als Klebstoff für die Unzufriedenen.

Bleiben wird das Gefühl der Demonstranten, einmal mehr aufs Maul bekommen zu haben; mit einem gut gezielten Tritt aus der Mitte der Gesellschaft noch weiter ins Aus befördert; wieder mal erledigt worden zu sein. Dabei zeigt gerade das Beharren der PEGIDIAner, sie gehörten der Mitte an, das ihrer Gegner, sie täten es nicht, worum es eigentlich geht: wer dazugehören darf; wer bestimmen, welche Anderen Abschaum sind.

Frustriert werden diese Ansprüche weiter schwelen; so lang, bis die nächste Wutblase platzt.

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