Die Übergriffe von Köln und Hamburg – und was für ein Umschwung im Land!
Jahre, Jahrzehnte lang wurde Belästigung von Frauen, wurden sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt als Kavaliersdelikt behandelt, oder glattweg geleugnet. Ein Kartell konservativer Männlichkeit in Politik und Presse hatte das Urteil verhängt, diesbezügliche Beschwerden einzelner Frauen oder ihrer Organisationen beruhten auf Einbildung und hysterischer Überempfindlichkeit; ebenso verhängte die Gesellschaft ein Schweigegebot über Betroffene, in Form drohenden Spießrutenlaufs, sollten sie dergleichen anzeigen. Und jetzt, jetzt auf einmal, nach den Ereignissen von Köln und Hamburg, werden die Betroffenen endlich ernst genommen, die Taten nicht mehr heruntergespielt und verschwiegen, wird offen über …
Ach so. Das hat sich geändert.
Nicht etwa das: Seit Langem beanstanden Frauen und deren Organisationen verbale wie tätliche sexuelle Belästigungen und Übergriffe – begangen von westlich sozialisierten, „deutschen“ Männern. Ob es um „freundliche Komplimente“ geht, um zudringliche Chefs, „zufällige“ Berührungen oder offensives Grapschen, werden ihre Beschwerden nicht ernst genommen, wird ihnen von Männern vorgeschrieben, wie sie die Vorgänge wahrzunehmen hätten: als harmlos, unbedeutend, die eigene Reaktion übertrieben. Die maskuline Reaktion bestand stets darin, anstelle der Frauen entscheiden zu wollen, wann sie „wirklich“ belästigt wurden, und wann sie es sich nur einbilden (nach Meinung der meisten konservativen Männer: immer).Und noch immer fürchten oder schämen sich Opfer, eine Vergewaltigung anzuzeigen (daß es diesmal Anzeigen regelrecht hagelt, wird noch wichtig werden).
Kaum glauben nun feministische Frauen, sie könnten angesichts der Empörung um Köln das Thema sexueller Übergriffe endlich auf breiter Basis öffentlich thematisieren – also auch in der deutschen Kultur noch vorhandene Einstellungen und Verhaltensweisen von Männern benennen –, wird ihnen erneut der Mund verboten; sogar unterstellt, sie wollten die Untaten von Köln „relativieren“, also übergriffige Männer diesmal in Schutz(!) nehmen. Die Lektion: Ja, es darf endlich darüber gesprochen werden – so lange den deutungshohen Herren der Schöpfung der Täterkreis genehm ist.
Um es ganz deutlich zu sagen: Die Angriffe auf Frauen in Köln und anderen Städten sind verabscheuungswürdig, durch nichts zu „relativieren“ – sind abstoßend, unerträglich, zum Kotzen. Die konkreten Täter müssen mit aller Härte verfolgt und bestraft werden.
Das gilt jedoch für jeden sexuellen Übergriff. Sollte es jedenfalls.
Und nun das Merkwürdige. Vor einiger Zeit geisterte kurz die Meldung durch den Videotext, die Kölner Polizei habe erklärt, sexuelle Übergriffe würden – in einem Zustand „alkoholbedingter Rohheit“ oder ähnlich – in der Silvesternacht seit Jahren vorkommen. Die Meldung hielt sich nicht lange; deutete aber an, daß die Ereignisse zum Jahreswechsel 2015/16 vielleicht quantitativ, aber nicht qualitativ neu waren. Von vornehmlich ausländischen Tätern war darin keine Rede; die Alkoholbedingung spricht eher für einheimische Sozialisation.
Und da wird nun interessant, daß nach Epochen des Leugnens der große Aufschrei jetzt erfolgt, zu einem Zeitpunkt, da er geeignet scheint, eine ganze Gruppe weitgehend Unbeteiligter – nämlich sämtliche Flüchtlinge, Migranten und „Fremden“ – unter Generalverdacht zu stellen.
Wie anders doch das Bild in vergangenen Jahren, wenn unterschiedlich schwerwiegendes Verhalten deutsch sozialisierter Männer ruchbar wurde, ob das eines gewissen FDP-Politikers, sexuelle Nötigung am Arbeitsplatz oder „nur“ ein paar Maulschellen für die Alte – und wie tief das Schweigen darüber, daß besoffene deutsche Jungmänner (ältere auch), ob allein oder in Banden, sich allzu häufig nicht anders verhalten, als diesmal die „Primitiven“ aus den „mittelalterlichen Kulturen“.
Denn wurden bisher Männer solchen Verhaltens angeklagt, trat stets – jedenfalls immer dann, wenn die Übeltäter „Deutsche“ waren – sofort jene sehr starke Fraktion auf, die fand, „eigentlich“ sei doch gar nichts passiert; die Weiber bloß hysterisch, und die sollen sich nicht so haben.
Worin bestand denn die Reaktion auf den Twitter-„Aufschrei“ der Frauen vor einiger Zeit?
Im Versuch, die betroffenen Frauen als überempfindliche Ziegen darzustellen; die vielen berichteten Erlebnisse als harmlos abzutun.