Willkommen in der Brexit-Hölle
»Aus«, murmelte Rhodan. »Verloren.« – Perry Rhodan Nr. 398, „Das Ende der Dolans“
Ähnlich katastrophal wie am Ende dieser PR-Story wird’s demnächst auch in der EU aussehen, glaubt man manchen Reaktionen auf den Brexit. Nun, mal sehen. Herr Cameron jedenfalls ist hoffentlich stolz auf sich; der Geist, den er aus der Flasche ließ und nicht wieder hineinbugsieren konnte, hat sein Werk getan.
Doch wie soll man sich nun zum beschlossenen Brexit äußern? Herr Sathom tat sich vorher, und tut sich jetzt noch schwer, in den Chor der Warnungen, Kassandrarufe und beschwörenden Appelle einzustimmen, die überall erklingen (von den Jubelrufen der Rechten ganz zu schweigen). Denn das Ereignis ist ohne historischen Präzedenzfall. Ganz gleich, wie viele „Experten“ man in den kommenden Wochen durch die Talkshows scheuchen wird, kann niemand den weiteren Verlauf vorhersagen. Nur ein Gedanke kam ihm heute mit Blick auf die Stimmverteilung.
Zwar wirkt der Beschluß nämlich wie ein Sieg des Rechtspopulismus; derer also, die überall gegen „die EU“ hetzen, eigentlich aber Schwule, Lesben und Ausländer, oder überhaupt suspekte Subjekte ohne die richtige, stramm gestrige Haltung meinen. Möglicherweise – so idealistisch das vielleicht klingt – liegt im Wahlergebnis aber auch ein Fünkchen Hoffnung. Der äußerst knappe Ausgang spaltet einerseits die britische Bevölkerung; er verweist jedoch noch auf etwas anderes, eine Gemeinsamkeit. Dieses Einende zeigte sich auch im Ergebnis der Wahl des österreichischen Bundespräsidenten – an beiden Abstimmungen gab es reges Interesse auch außerhalb der betroffenen Staaten, Dissens und Übereinstimmung bezüglich der gewünschten Ergebnisse, abhängig von der Einstellung der jeweiligen Bevölkerungsgruppen, und eine beinahe fünfzig-zu-fünfzig-prozentige Stimmverteilung innerhalb der jeweiligen Länder. Die Grenzlinien verlaufen also längst nicht mehr zwischen Nationen; sondern zwischen Menschengruppen, die über Staatsgrenzen hinweg gemeinsamen Zielen und politischen Auffassungen anhängen. Nicht Briten, Deutsche, Österreicher etc. stehen gegen- oder füreinander, sondern länderübergreifend Befürworter und Gegner von Offenheit, Toleranz und Solidarität einerseits, Rückschritt, Egoismus und Nationalismus andererseits.
Eigentlich verweisen die Ergebnisse also darauf, daß der Nationalstaat an Bedeutung verliert – er repräsentiert nicht mehr den Zusammenhalt bzw. Dissenz seiner Bürger. Ganz gleich, welche Auswirkungen das britische Seebeben nach sich zieht, weitere Exit-Abstimmungen etwa, wird sich Europa neu organisieren und orientieren müssen; das Ergebnis könnte, setzt der Trend sich fort, anders aussehen, als die Nationalisten derzeit erhoffen und bejubeln. Entschlossenheit, Mühe und Willenskraft aller, die auf positive abendländische Werte setzen, könnten letztlich dahin führen, ein Europa der inhaltlich übereinstimmenden Gruppen – übernationaler, tribaler Entscheidungsmächte, wenn man so will – zu begründen. Nennen wir es vielleicht eines der weltanschaulichen Nationen. Und während ein Geert „I look like Trump jr.“ Wilders sich schon auf das Ende der EU freut, würde vielleicht das Ende der Nationen eingeleitet. Ironischerweise könnte die aktuelle Entwicklung also in eine andere Richtung laufen, als die europäische Rechte erhofft – eine, die sie sogar abschafft. Denn was wollte sie bewerkstelligen – eine Zusammenarbeit für das Recht, einander spinnefeind zu sein? Gemeinsam für ein Gegeneinander zu streiten, ist ein Unding.
Die Idee ist eingestandenermaßen derzeit noch utopisch (aber why not? Positive Utopien, das wär doch zur Abwechslung mal wieder was). Sie ist jedoch nicht völlig unrealistisch. Im Zuge digitaler Internationalisierung einerseits, sozialer Binnenghettoisierung andererseits hat der Nationalstaat als legitimer Repräsentant der Bevölkerung eigentlich abgewirtschaftet. Die erwähnten Stimmverhältnisse sind nur eines von vielen Indizien dafür. Die Auseinandersetzungen für oder gegen LGBT-Rechte, Toleranz, Einwanderung, sozialen Ausgleich etc. finden über die Grenzen hinweg, quer durch die Bürgerschaften statt.
Der Weg zu übernationalen Konsensgemeinschaften, die auch über Entscheidungs- und Herrschaftskompetenz verfügen, wäre ein langer; diese Meinungs-Tribes existieren faktisch längst, verfügen aber nicht über Strukturen und Institutionen, die sie entscheidungs- und durchsetzungsfähig machen. Diese sind noch nationale (Parlamente, Exekutive etc.; auch die EU-Institutionen, sogar die berüchtigte Kommission, sind national gebunden). Doch für eine solche Entwicklung gibt es einen historischen Präzedenzfall. Die Feudalstaaten wichen in einem langen Prozeß den Nationalstaaten, sobald ihre Organisation von Herrschaft den gewandelten Gesellschaftsstrukturen nicht mehr entsprach. Eine ähnliche Bewegung zu übernationalen Tribes würde unausweichlich, sobald nationalstaatliche Strukturen den Konsens der Landesbevölkerungen deutlich und praktisch nicht mehr spiegeln, und damit ihre Legitimation verlieren. Danach sieht es derzeit aus; eine Anpassung der institutionellen Strukturen wird damit nicht zwingend, zumal sich die Vertreter des status quo an diesen klammern werden, doch die Geschichte zeigt, daß grenzübergreifende Änderungen der Lebensverhältnisse schon in der Vergangenheit sehr langsame, doch unaufhaltsame Erdrutsche hervorriefen. Der Feudalstaat erodierte zuletzt; angesichts der Wahlergebnisse ist immerhin vorstellbar, daß es dem Nationalstaat, entgegen der Intention aller EU-Spalter, ähnlich ergehen könnte.
Versuchten Rechtspopulisten und andere Rückwärtsgewandte derzeit mit aller Gewalt, einen komatösen Dinosaurier künstlich zu beatmen, wäre das schlimm genug; doch auch der bestehende Nationalstaat ist längst nicht mehr das, was sie sich wünschen. Er hat sich gewandelt, was sie mit Verwesung verwechseln. So wollen sie seinen Ahnherrn vom Beginn des 20. Jahrhunderts wiederbeleben – samt seiner von Nationalismus und Ultrakonservatismus verkalkten Organe. Austrittsabstimmungen sind eine ihrer Holzhammermethoden, den Affen zu schocken. Das Biest ist längst hinüber, nicht frisch genug, wie Lovecrafts Herbert West sagen würde – aber wie das so ist: In ihren letzten Zuckungen vermögen todesnahe Riesen noch einigen Schaden anzurichten; und auferstandene Mumien verbreiten den Tod.
Übrigens: Das Solsystem, orakelte Perry Rhodan nach der Dolan-Katastrophe, würde nie wieder werden, was es war; aber auf die Beine sind sie doch wieder gekommen. Wurde sogar am Ende alles besser.