Herr Sathom hat sich getäuscht. Er prophezeite der merkelschen Adjektivbildung „postfaktisch“ kurze Lebensdauer – zu umständlich, zu inhaltlich blödsinnig sei sie, um sich durchzusetzen.
Doch inzwischen – nachdem sich eilfertige Denker rasch anheischig machten, sie zu „kontrafaktisch“ zu verbessern – hat sie Karriere gemacht. Zumindest, wenn man Debatten und Äußerungen der letzten Wochen beobachtet, scheint sie gekommen, um zu bleiben.
Denn sie erweist sich als nützlich.
Zum einen eignet sie sich vorzüglich zur Abwehr jeglicher Kritik. Menschen, die sachlich begründete Zweifel an TTIP und CETA hegen, am Kapitalismus in seiner jetzigen Form, die allesamt dabei nicht rechts orientiert sind, kann man mit der Diagnose „postfaktisch“ – wie im vorangehenden Artikel gezeigt – hervorragend in einen Topf mit irgendwelchen Idioten werfen, ihre durchaus rationalen Argumente ignorieren, kurz, alles, was der Weltdeutung der Herrschenden widerspricht, als irrational vom Tisch wischen (und ggf. mit dem Populismusverdacht behaften). Herrschaft und Vernunft können endlich wieder identisch gesetzt werden.
Zugleich vereitelt diese Einordnung erfolgreich jede effektive Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus bzw. Faschismus – zumal eine selbstkritische. Die Verachtung des Anderen, Kern faschistischer Welt- und Menschenbilder, ist der bürgerlichen Mitte ja nicht fremd; sie verachtet den Armen, den „Verlierer“, die an den „Rändern der Gesellschaft“. Das Gerede vom „braunen Sumpf“ (der menschlichen Scheiße), vom hellen und dunklen Deutschland und vom Pack, so wie noch vor wenigen Jahren das von „Sozialschmarotzern“ unter den Empfängern staatlicher Hilfen, sie alle drücken im Grunde dieselbe manichäische Teilung der Menschen in Lichtgestalten und Dreck aus, die auch der Rede des Nazis von „Ariern“ und „Untermenschen“ innewohnt. Mitte und Obere waren in Denken und Sprache nie weit entfernt von dem, was sie jetzt fürchten; bedient wurden entsprechende Ressentiments allemal gern.
Und mehr als das. Wurde rechte Gewalt ruchbar, galt die Sorge hiesiger Politiker lange Zeit zuerst der Sorge um Deutschlands Ruf in der Welt, nicht den Opfern oder Hintergründen. Und als im Verlauf der „Wende“ in Hoyerswerda der Mob fast ungehindert brandschatzen konnte, bestand die christkonservative Reaktion darin, eine Verschärfung der Asylgesetze zu fordern, um solchen Umtrieben zu wehren. Lange Zeit konnte die Rechte sich auf heimliche Kumpanei verlassen, mindestens darauf, daß sie bekam, was sie wollte, wenn sie nur ordentlich Krach schlug, und bloß nebenher ein bißchen meuchelte. Angela Merkels „Verbrechen“ in den Augen ihrer christlich-konservativen Parteigenossen, einiger Medien und der AfD- und Pegida-Anhänger besteht vielleicht eigentlich darin, diesen gesellschaftlichen Konsens aufgekündigt zu haben, als sie Flüchtlinge willkommen hieß. Für die soziale Frage haben sich die derzeitigen Rechtspopulisten und ihre Fans vor der Flüchtlings-„Krise“ jedenfalls nicht die Bohne interessiert, soweit sie aus der gesellschaftlichen Mitte stammen und nur „Abstiegsängste“, aber noch keine reale Erfahrung auf diesem Gebiet haben. Sie tun es auch jetzt nicht (und auch sonst keiner; sonst wäre die LINKE an der Macht); nicht ungleiche Chancen oder Sozialabbau stören sie, sondern daß das System der ungleichen Verteilung nicht zu ihren Gunsten ungerecht ist.
Überhaupt ist das Denken der Verachtung, auf dem dieses System ruht, weiterhin überall verbreitet; auch unter denen, die sich nicht rechts einordnen. Die Vorurteile gegen Ausländer, betrachtet man sie näher, gleichen denen, die in den Jahren der Verdrängung der Gewerkschaften und des geförderten Hau-Ruck-Kapitalismus gegen Arme, „Verlierer“ und „Versager“ ins Feld geführt wurden, aufs Haar; sie wurden mit identischen Mitteln verächtlich gemacht. Hier findet sich, was der französische Soziologe Didier Eribon „Sozialrassismus“ getauft hat. Und im Kampf gegen die neue Rechte wird ausgerechnet dieser reaktiviert, wenn deren Erfolg als Aufstand der zu kurz gekommenen Idioten abgehakt wird. Auf die Idee, daß da nur zurückschallt, was man lange in den Wald gerufen hat, daß die Populistenanhänger einfach zugespitzt und hochtransformiert ausleben, was man sie gelehrt hat – wie nämlich mit Menschen umzugehen sei – kommt kaum jemand.
Tatsächlich fände ich die Begriffe post-rational und soger kontra-rational angemessen (allerdings in der Analyse des post-/kontrafaktischen), denn: ratio = Vernunft, und man kann wirklich nicht behaupten, die Eliten, Politiker, Rechten oder überhaupt sonstwer würde sich im Moment groß vernünftig verhalten. Zugegeben, das schert auch wieder alle über einen Kamm. Aber Aufklärung und Vernunft sind zur Zeit zu einem Dasein in der Besenkammer verdonnert. Am Rande sei erwähnt, dass Herr Trump eine Kreationisten zum Bildungsminister in seiner Regierung berufen hat.
Interessant finde ich diesen Kommentar in Zusammenhang mit Fake News, die ja wesentlicher Teil der Kampagne gegen die Vernunft sind: http://www.zeit.de/digital/internet/2016-11/falschmeldungen-fake-news-medien-internet-verantwortung
Ist zwar einiges Blabla dabei, aber die Analyse, dass die etablierte, angeblich seriöse, Medienlandschaft die neue Kommunikation komplett verschlafen hat, finde ich zutreffend. Wenn sie gegen das Rauschen der Fake News vergehen will, muss das Signal der Vernunft eben die neuen Medien fluten.
Ja, naja, zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte beim Vernunftideal eigentlich schon immer eine Lücke, nicht erst aktuell. Das Vernünftige zu tun, ist quer durch die Aufklärungsgeschichte eigentlich eher eine Behauptung, die egoistische bzw. Herrschaftsinteressen kaschiert. Bzw. ist Vernunft immer das, was die Inhaber der Deutungshoheit für sich reklamieren. Der Webfehler setzt schon mit der Kantschen Konstruktion des Vernunftbegriffs ein bzw. mit der Rezeption durch ein aufstrebendes Bürgertum, das „rationales“ Handeln vornehmlich als ein wirtschaftlichen Interessen dienendes auffaßte.
Ich muß übrigens auf eine Selbstkorrektur hinweisen: Ich habe auf Seite 2 noch hinzugefügt, daß Angela Merkel (oder wer immer ihr diese Rede geschrieben hat) das Adjektiv „postfaktisch“ nicht erfunden hat; es existiert schon länger, war allerdings kaum verbreitet, und ist eine Übersetzung des englischsprachigen „post-truth politics“.
In diesem Zusammenhang ist es ganz interessant, den englischsprachigen und den deutschen Wikipedia-Eintrag zu vergleichen. Hierzulande wird das Postfaktische ausschließlich bei Populisten verortet, während im angelsächischen Raum offenbar auch etablierte Politik und Medien eingeschlossen werden. Insofern müßte man sagen, daß die hiesigen Medien die neue Kommunikation nicht bloß verschlafen, sondern massiv zum Problem beigetragen haben. Ich erinnere mich z.B. noch gut an die jahrelange neoliberale Propaganda, die jeden sozialen Abstieg als Folge von Faulhiet, Blödheit oder sonstigem Versagertum der Betroffenen abstempelte (ähnliches gilt bei anderen Begriffen; Filterblasen und Echokammern hat eigentlich jede gesellschaftliche Schicht, und das nicht erst seit Aufkommen der neuen Medien; hierzulande scheint man diese Phänomene allein Populisten zuzuordnen).