Ich sag’s ja ungern, weil’s so großkotzig klingt: Aber ich hab Nieter Dieter Nuhr schon vor Jahren durchschaut. Inzwischen haben’s ja, von einer nibelungentreuen Hardcore-Fangemeinde mal abgesehen, anscheinend fast alle kapiert. Und sich auf den Guten eingeschossen, der sich, getreu seinem Selbstbild als Inkarnation des Gesunden Menschenverstandes, mißverstanden und zum Gegenstand einer Hexenjagd gemacht fühlt, ach was, eines regelrechten Pogroms gar. Der geifernde Mob hat nichts Geringeres als als die „soziale Vernichtung“ des armen Dieter im Sinn; mit Fackeln und Mistgabeln sucht er ihn auf den Scheiterhaufen zu zerren, der sich mit eigenem Sendeplatz und auch sonstigen Fernsehauftritten sonder Zahl gesegnet, dennoch mundtot gemacht sieht.
Bloß na ja, eigentlich macht Dieter Nuhr nichts anderes als das, was er schon seit Jahren tut – nur, daß es zunehmend mehr Leuten auffällt, nicht nur wenigen, die ihn, wie Christine Prayon, schon früher kritisiert haben.
Daß ich mich zu Dieter Nuhr trotz langjähriger Abneigung bisher nie ausführlich äußerte, höchstens randständig vielleicht, hat vor Allem zwei Gründe. Der erste ist schlicht arbeitsbedingter Zeitmangel. Denn es geht bei alledem nicht lediglich um die Person Dieter Nuhrs; sondern um seine Agenda, um eine bestimmte Ideologie, die er verbreitet, und deren Verankerung im Denken einer bestimmten sozialen Schicht – der bürgerlichen nämlich – mit all den Konsequenzen, die dies für Angehörige anderer Schichten, für sogenannte „Randgruppen“, kurz, für Nuhrs beliebteste Angriffsziele im ganz realen, gesellschaftlichen Alltag hat. Eine Erörterung muß daher entsprechend komplex ausfallen und kann sich nicht am Mann Dieter Nuhr aufhängen, sondern ihn lediglich als Beispiel heranziehen; muß aber, um das zu tun, umfangreiche Beispiele für seine irreführende Agitation in Fragen sozialer Gerechtigkeit, Gendergerechtigkeit, Rassismus usw. liefern. Eine ganze Menge Aufwand.
Die auch erklärt, weshalb das Ganze nun als Artikelserie daherkommt; es ist zu viel, es in einen Text zu packen. Was wiederum dazu führt, daß ich dem eigentlichen Anlaß, das Thema endlich aufzugreifen, bereits wieder hinterherhinke (er wird im zweiten Artikel behandelt werden).
Der andere Grund besteht darin, daß ich die Auseinandersetzung mit ihm als ausgesprochen unangenehm empfinde. Das Phänomen Nuhr so eingehend zu erörtern, wie mir erforderlich scheint, zwingt mich, im Laufe der Jahre gesehene Auftritte, Programme, gelesene Interviews, kurz, alles, was mir aufstieß, noch einmal aufzusuchen – um Belege für meine These zu sammeln, mich zu vergewissern, daß ich Äußerungen nicht falsch erinnere, zitierfähige Quellen zu finden, usw. Die Aussicht, das tun zu müssen, hat auch aktuell dazu geführt, die Arbeit an diesem Artikel vor mir herzuschieben; die bloße Vorstellung, sich manche von Nuhrs Einlassungen ein zweites Mal anhören zu müssen, bereitete mir fast körperliches Unbehagen. Daß eines seiner Programme aktuell online nicht mehr auffindbar ist und ich mich da auf meine Erinnerung verlassen mußte, ließ mich regelrecht erleichtert. Und so gestaltete sich die Arbeit an diesem Text vor allem – quälend.
Der Grund für dieses Verhältnis zum Thema besteht vielleicht eben darin, daß es nicht nur um die Person Dieter Nuhr geht. Tatsächlich greift das, was er tut, weit über ihn hinaus; und ich hoffe in der folgenden, längeren Analyse zu zeigen, weshalb er lediglich ein Symptom eines größeres gesellschaftlichen Problems ist (vorgreifend: der Selbstinszenierung des konservativen Bürgertums als herrschaftstragende Schicht, die ihren Hoheitsanspruch auf eine ständig behauptete, tatsächlich jedoch nicht gelebte, aufgeklärte Vernunft gründet). Eines Phänomens, das allerdings anhand Dieter Nuhrs gut illustriert werden kann, denn was er sagt und tut, ist eben – symptomatisch. Die Heuchelei, derer er sich dabei befleißigt (und die zugleich die seiner Anhänger ist), das Ausmaß, in dem diese die gesamtgesellschaftliche Debatte von bürgerlicher Seite prägt, bereiten mir einen schwer zu ertragenden Widerwillen, der mich – um ganz ehrlich zu sein – bisher vor der Aufgabe zurückschrecken ließ.
So, what’s the deal with Dieter? Zwei kürzliche Aufregungen um den Kabarettisten eignen sich recht gut, zu illustrieren, was einem an Dieter Nuhr auf den Wecker gehen sollte, und eben nicht erst seit gestern. Die eine betrifft Nuhrs Verhältnis zur Wissenschaft; die jüngere seine Aussagen zum Buch von Alice Hasters.