:: Angst und Armut als Kapital

Neulich berichtete die linksversiffte Postille neues deutschland über die Augsburger Sozialsiedlung „Fuggerei“; den Umstand, daß die Zahl der Bewerber für diese (in einiger Hinsicht eigentümliche) Siedlung zunimmt, kommentiert der Artikel mit dem bemerkenswerten Satz: „Als sei der Sozialstaat nicht mehr fähig, Armut zu verhindern.“

Ähm … ach was, echt jetzt? Kleiner Tipp: Stimmt, ist er nicht; war er auch noch nie. Soll er nämlich auch gar nicht.

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist vor allem zunächst eines: kapitalistisch organisiert. Armut aber ist im Kapitalismus kein Unfall, der einigen Unglücklichen halt passiert; sie ist ausdrücklich erwünscht. Sie ist kein Fehler im System, kein tragisches Schicksal; sie ist gewollt, es soll sie geben.

Der Reiche braucht den Bettler mehr, als umgekehrt

Das hat verschiedene Gründe. Betrachten wir zwei:

Erstens, die Menge des Geldes, das sich im Umlauf befindet, muß begrenzt bleiben. Gäbe es immer mehr davon, hieße das: Inflation. Die findet zwar unvermeidlich statt, sollte aber begrenzt werden – wie die Hyperinflation der Weimarer Zeit beweist, mit ansonsten katastrophalen Folgen. Anders gesagt: Je weniger es von etwas gibt, desto wertvoller wird es; damit Geld genug Wert behält, darf es nicht zu viel davon geben (daß Geld nicht wirklich einen Wert hat, sondern wir nur alle übereinkommen, so zu tun, ändert daran nichts). Das ist nun an sich noch kein kapitalistisches Problem – wird es aber, wenn eine Gesellschaft ermöglicht, sogar fördert, daß Einzelne Unmengen an Kapital – also Geld – an sich raffen. Äh, ich meine, „akkumulieren“. Erlaubt oder fördert eine Gesellschaft, daß Einzelpersonen oder Konzerne gewaltige Geldmengen an sich ziehen, dann kann das nur geschehen, indem ein Großteil der Bevölkerung immer ärmer wird – die Gesamtmenge des Geldes darf ja nicht steigen. Geld ist eine begrenzte Ressource; verfügen Wenige über sehr viel davon, müssen Viele zwangsläufig weniger davon haben. Und werden diese Reichen immer reicher, müssen alle anderen zwingend ärmer werden.

Einer der Mechanismen, die das ermöglichen, heißt „Ausbeutung“ – also die Praxis, daß z.B. Pflegekräfte, Fahrradkuriere oder Angestellte im Online-Versandhandel für Hungerlöhne schuften, während sich Inhaber oder Aktionäre die Taschen vollstopfen.

Zweitens: Armut ist das perfekte Druckmittel. Jedes Mitglied unserer derzeitigen Gesellschaft lebt mit dem ständigen Angstdruck, eventuell arm werden zu können. Das betrifft längst nicht mehr nur Angehörige der „Unterschicht“ oder des „Prekariats“. Es kann jeden erwischen: Jobverlust, dazu vielleicht noch eine Scheidung, oder die falschen Wertpapiere für die Altersvorsorge angeschafft, oder eine astronomische Mieterhöhung – schon sind auch Angehörige der Mittelschicht nicht mehr sicher vorm Abrutschen. Hinab in die Ränge derer, auf die man gestern vielleicht noch verächtlich herabgeblickt hat. Vielleicht unterstellte man ihnen Faulheit, oder anderes Versagen, um die eigene Furcht zu beschwichtigen (kann mir nicht passieren, ich bin ja fleißig, talentiert, leistungswillig) – doch eben dieser Versuch der Verleugnung zeigt, daß man eigentlich spürte: „Mich kann es auch erwischen“. Für Viele wird das Schreckensszenario in der Pandemie real; doch auch davor spürten wir diesen Angstdruck alle, werden ihn auch nach Covid weiter spüren, unabhängig von Einkommen und Status, und reagieren darauf mit zunehmendem Egoismus, Ellbogenmentalität, Feindseligkeit untereinander.

Angst als Kapitalanlage

Und auch das ist gewollt – die Knute der Armutsdrohung macht uns gefügig, bereit, uns ausbeuten zu lassen. Oder, wie der US-amerikanische Krimiautor Raymond Chandler in einem Vergleich von Sowjet-Kommunismus und Kapitalismus einmal formulierte: „Bei beiden dieselbe Überbeanspruchung des Individuums, um die äußerste Leistung aus ihm herauszuholen, […] dieselbe augenblickliche Rücksichtslosigkeit, mit der man fallenläßt, was schwach zu werden beginnt, dieselbe Verachtung für das Individuum als Person […]“.1) Ja, auch im Kommunismus wird man unterdrückt, wie in vielen Herrschaftssystemen; dort halten sie dir eine Knarre an den Kopf, hier drohen Not und Elend für dich und deine Familie, ggf. Erfrieren in der Gosse. Man könnte es auch so formulieren: Der Kapitalismus hat die Eigenschaft, alles in ausbeutbare Ressource zu verwandeln, auch den Menschen – und er nutzt daher eben auch die Armut, und unsere Angst vor ihr, als solche. Schlägt aus ihnen, sozusagen, Kapital.


1) Raymond Chandler, Die simple Kunst des Mordes, Zürich 1975, S.175

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