Ist ja gerade in aller Munde. Landauf, landab, überschlagen sich die Medien mit besorgten Fragen wie „Spaltet der Haß unsere Gesellschaft?“, oder liefern die Antwort gleich als „Wie der Haß unsere Gesellschaft spaltet“ ab; und heute abend (19:20 Uhr) befaßt sich der Verleger Jakob Augstein laut TV-Programm in der 3sat-Sendung „Die deutsche Identitätssuche“ u.a. mit der Frage, ob die „zunehmende Moralisierung“ unsere Gesellschaft „zersplittert“. Je nach ideologischem Hintergrund können die Ursachen der Spaltung also an unterschiedlichen Orten vermutet werden: Mal sind es moralinsaure Emanzen, mal alte weiße Männer, mal der maskierte Impfzwang höchstpersönlich. Der Haß ist allerdings besonders beliebt; ihn sehen die meisten Kommentatorïnnen überall im Gebüsch lauern und Flächenbrände entfachen, während er selbst irgendwie, na, halt unmotiviert so da ist. Einig ist man sich nur, daß diese Spaltung gerade stattfindet, und uns alle entzweit.
Na ja, ähm … nein. Herr Sathom ist ja nun auch schon eine Weile dabei (alter weißer Mann und so), d.h. er lebt schon einige Zeit in dieser Gesellschaft und beobachtet sie fast ebenso lange (bis zu einem bestimmten Alter beobachtest du ja eher nur dein soziales Umfeld aus Plüschtieren). Und ihm scheint daher, daß fast alle Darstellungen des Problems, soweit sie in den bürgerlichen Medien erfolgen, falsch sind.
Dabei handelt es sich vor allem um zwei Fehler.
Der erste besteht in einer Verwechslung von Ursache und Symptom; der andere in der Wahrnehmung, daß das Ganze erst jetzt stattfindet, ganz aktuell durch Corona verstärkt, daß es also eine neue Entwicklung darstellt.
Herr Sathom hat da ganz andere Erfahrungen gemacht; auch, weil er selbst längere Zeit arm war, jedenfalls sich mit extrem geringem Einkommen durchschlagen, und das Leben einmal aus der Perspektive der „Zukurzgekommenen“ erleben mußte. Und selbst wenn man das nicht muß, ist es ja kein wirkliches Geheimnis, daß es immer mehr Menschen sozial schlechter geht; man muß nur mit offenen Augen durch die Straßen gehen. Es erfordert keine aufwendige Forschungsarbeit, zu bemerken, wie die Zahl der Bettlerïnnen, der Flaschensammlerïnnen, kurz, der wirklich am Boden angekommenen Leute seit der Wende erst deutlich zunahm, und irgendwann regelrecht explodierte.
Der erste Punkt wäre also: Die Spaltung der Gesellschaft findet nicht jetzt erst statt; sie ist längst ein etablierter Fakt. Spätestens beginnend mit der Agenda 2010, ist sie das Ergebnis einer fortgesetzten, neoliberalen Politik, die einseitig die Wohlhabenden bevorzugt, die „sozial Schwachen“ hingegen ignoriert, oder sogar aktiv schädigt, wenn es den Reichen, oder der oberen Mittelschicht, nützt.
Diese Spaltung ist also vorwiegend eine ökonomische, in bevorzugte und benachteiligte Gruppen; woraus aber weitere Bruchlinien hervorgehen, z.B. schlechtere Bildungschancen. Wirtschaftliche „Spalten“ in der Gesellschaft sind jedoch nicht die einzigen, denn Rassismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus können hinzukommen – wer z.B. arm und nicht weiß geboren wird, findet sich in einer ganz besonders ungemütlichen Schnittmenge wieder.
So oder so ist diese Spaltung längst vorhanden, und wird aktuell lediglich vermehrt sichtbar. Das geschieht teilweise durch die Proteste der Betroffenen selbst, z.B. gegen Rassismus; teils aber auch seitens einer bisher an sich recht gut gestellten, privilegierten Mittelschicht, die plötzlich fürchtet, die Erosion der sozialen Verhältnisse möchte auch sie erreichen, so daß sie morgen zu denen gehören könnten, die sie heute noch verachten. „Pegida“ und die AfD, aber auch große Teile der Quatschdenker-Bewegung wären Beispiele für bisher brave, gut situierte Bürger, die sich plötzlich von wildwütigen Migrantenhorden, „dem Staat“ oder „den Eliten“ bedroht sehen.
Damit wären wir bei der zweiten falschen Annahme. Denn der „Haß“, der da allgemein als Spaltungsgrund angenommen wird, meinetwegen auch seine milderen Formen, also Wut, Zorn, Ärger, oder die „moralisierende“ Cancel-Keule, sind Folgen dieser ganz realen Spaltung, nicht ihre Ursachen. Die Menschen sind wütend, weil sie unter der strukturell bedingten Spaltung leiden – oder weil sie, bisher Profiteure der ungerechten Ressourcen- und Chancenverteilung, ihren Abstieg fürchten, wenn andere soziale Gruppen ihren Anteil einfordern. Ihre Wut ist Folge, nicht Ursache, der Spaltung.
Wenn diese Hypothese stimmt, wie kommt es dann, daß mediale und politische Kommentatorïnnen diesen „Spaltungsprozeß“, der ja keiner ist – er hat längst stattgefunden – so falsch deuten?