Oder: Ein Wutausbruch mit haufenweise Gänsefüßchen.
Es ist schon vertrackt: Laut einer kürzlichen Oxfam-Studie sind die Reichen und Superreichen in der Pandemie noch reicher geworden, das Vermögen der zehn reichsten Männer der Welt hat sich sogar verdoppelt; zugleich ist die Zahl der Armen um ca. 160 Millionen gewachsen.
Aber tut jemand etwas dagegen? Wird – von welcher Seite auch immer, Politik, Bürgern, Parteien – irgendetwas unternommen, um ein Strukturen, die solche Ungleichheiten produzieren, fundamental zu ändern?
Nein. Stattdessen Verschieben die einen ihre Existenzängste und ihre Wut auf völlig irrsinnige, zusammenphantasierte Bedrohungen, „denken“ kreuz und „quer“ und sehen ihre Freiheit durch die Zumutung bedroht, geringfügige Unbequemlichkeiten wie Schutzmasken auf sich nehmen zu sollen; verstehen überhaupt „Freiheit“ als das Recht, sich völlig rücksichtslos zu verhalten und der Allgemeinheit zu schaden. Attackieren aus derart kleinlichen gründen ein „System“, das sie als „Impfdiktatur“ wahrnehmen, und wähne sich als Heldïnnen des Widerstands. Und ihre Gegnerïnnen, diejenigen, die sich noch der Vernunft und einer gewissen Verantwortung für ihre Mitmenschen verpflichtet fühlen, versuchen mit Händen und Füßen, Gesellschaft und Demokratie gegen die Impfgegner-Esospinner-Identitären-Antisemiten-Nazi-Horde zu verteidigen. Damit sind sie vollauf beschäftigt.
Was ich damit meine: Ich glaube, daß die ganzen Quer„denker“ und Impfphobiker (und innen) eine Wut verspüren, die eigentlich ökonomische Ursachen hat; der Angst vor sozialem Abstieg, soweit sie der Mittelschicht angehören, und der Wut über ihre Lage, soweit sie schon hineingeboren oder abgestiegen sind. Auch die Angst vor dem Verlust von „Identität“ ist an sich ökonomisch begründet; wer schon einmal in die Lage geraten ist, sich seine Kleidung nicht mehr frei aussuchen zu können, sondern nehmen zu müssen, was man sich gerade so leisten kann, zumal über einige Jahre hinweg, kann sich das vielleicht vorstellen (im gleichen Maß schwindet das Gefühl einer durch den eigenen „Style“ ausgedrückten Identität). Sozialer Abstieg bedeutet aber vor Allem, nicht mehr der „bürgerlichen Mitte“ anzugehören, und damit nicht mehr der Wählerklientel, die für die Politik interessant ist; und daher ihre Vorstellungen vom zulässigen Way of Life durchsetzen kann. Zugleich sind diese Leute nicht in der Lage, ihre eigentlichen, nämlich ökonomischen Bedrücker anzugreifen. Denn sie sind hypnotisiert von der Idee, daß es im Kapitalismus jede(r) schaffen kann, „vom Tellerwäscher zum Millionär“ zu werden. Würden sie die Reichen angreifen und sich für eine wirtschaftlich egalitäre Gesellschaft einsetzen, würden sie ihre eigene Chance attackieren, einmal doch selbst zu „denen da oben“ aufzurücken. Also verschieben sie ihre Wut (psychoanalytisch gesprochen) und richten sie auf Ziele, die weniger gefährlich scheinen – weil ein Sieg über Politikerïnnen, Journalistïnnen, Migrantïnnen usw. eben nicht die Gefahr birgt, die soziale Klasse zu vernichten, der sie selbst gern angehören möchten. Im Gegenteil: Sie hoffen, eine erfolgreiche Revolte würde sie in den Stand derer versetzen, die jetzt Macht ausüben und sich eben nach Lust und Laune bereichern dürfen.
Wer aber derzeit noch halbwegs privilegiert ist und den eigenen Status für ungefährdet hält, muß natürlich eher diese Möchtegern-Freiheitskämpfer als Bedrohung ansehen als irgendeinen Jeff Bezos.