:: Orbán sabotiert

Schöne Leistung. Endlich haben sich die Europäer, auch die besonders zögerlichen Deutschen, halbwegs zusammengerauft und unterstützen die Ukraine ernsthaft – z.B. durch den Ausschluß russischer Banken vom SWIFT-Verfahren und Waffenlieferungen – da sagt Ungarns Ministerpräsident Orbán „Nö“. Ungarn würde keine Waffenlieferungen an die Ukraine über das eigene Hoheitsgebiet zulassen, obwohl das Land den Sanktionen, und auch den Lieferungen selbst zugestimmt hat.

Die Begründung lautet, in der Region Transkarpatien würden „ethnische Ungarn“ leben, die durch solche Lieferungen gefährdet wären.

Was ist von dieser Entscheidung zu halten? Will Orbán – der die russische Invasion laut Tagesspiegel eher „halbherzig“ verurteilt, und zu Putin „ein freundschaftliches Verhältnis“ entwickelt habe – sich seinen Kumpel warmhalten? Plant er gar, der nächste Gerhard Schröder zu werden, um sich einst im Altersruhestand ebenfalls fröhlich online lächerlich zu machen? Will er sich den Hintern freihalten und Putin nicht verärgern, falls dieser nach der Eroberung der Ukraine weiter nach Westen schielt? Oder – um mal ganz wild zu spekulieren – fallen ihm die „ethnischen Ungarn“ deswegen ein, weil er hofft, nach einem Fall des Nachbarlandes selbst ein Stück vom Kuchen „befrieden“ zu können (weil, wegen der Ungarn, was Rußland wegen Russen kann, müßte man doch auch …)?

Na schön. Gehen wir das Ganze einmal sachlich an. Zunächst: Könnte der genannte Grund berechtigt sein? Wären Ungarïnnen, die auf ukrainischem Gebiet leben, durch solche Waffenlieferungen gefährdet?

Transkarpatien ist ein sogenannter Oblast, eine ukrainische Verwaltungseinheit – quasi ein Bezirk oder Land – am westlichen Rand der Ukraine. Er grenzt an Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Polen. Tatsächlich leben dort laut Wikipedia ca. 151.000 Ungarïnnen. Theoretisch wären diese natürlich gefährdet (so wie alle anderen Einwohnerïnnen auch), sollten russische Truppen diese Region angreifen, um über Ungarn hereinkommende Waffenlieferungen aufzuhalten. Bis zu einem gewissen Grad ist das Argument also nachvollziehbar – wenn man ignoriert, daß die dortige Bevölkerung ohnehin durch den russischen Angriff gefährdet ist.

Nehmen wir aber einmal an, das Argument ist – wenigstens teilweise – ehrlich gemeint. Ich meine allerdings, daß sich hinter der Verweigerung des Minimalpräsidenten Ministerpräsidenten noch ein anderes Motiv verbirgt; genauer gesagt, eine Ideologie. Das ergibt sich aus der Wortwahl.

Die verräterische Floskel lautet hier „ethnische Ungarn“. Personen also, die unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit als „biologische“ Volksangehörige betrachtet werden (von „ungarischen Staatsangehörigen“ hat Orbán explizit nicht gesprochen).

Dahinter steckt ein System. Denn es gibt mehr als einen Hinweis darauf, daß Viktor Orbán, seine Partei, und deren Anhänger einer altertümlichen Definition von „Volk“ anhängen – einer, die Völker als rein biologische, natürliche Einheiten betrachtet. Staaten wären infolgedessen nur Hervorbringungen der „natürlichen“ Wesensart eines Volkes, welches wiederum ausschließlich über eine gemeinsame „Natur“ – die ethnische Zusammengehörigkeit – definiert wird; die gemeinsame Kultur, die Regierungsform etc. wären Ausdruck der „Natur“ und damit nachrangig. Staaten wären demnach nicht etwa formelle Gebilde, die Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft hinter abstrakten Prinzipien (Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit z.B.) vereinen. Die Idee einer formellen Staatsangehörigkeit ist dieser Ideologie fremd, wird sogar feindselig abgewehrt. Entsprechend wären z.B. „ethnische Ungarn“, die nicht in Ungarn leben, aus der Sicht Orbáns und seiner Parteigänger viel eher „echte“ Ungarïnnen als Menschen, die auf ungarischem Staatsgebiet leben und die ungarische Staatsangehörigkeit haben, jedoch von anderen Ethnien abstammen.

Daß auch das Hintergrund von Orbáns Entscheidung ist, dafür spricht einiges. So phantasiert er – darin anderen Nationalistïnnen gleich – von einem „großen Bevölkerungswechsel“, betrachtet die Ungarïnnen sogar als „vom Aussterben bedrohte Art“; so wurde in Ungarn ein „Institut für Ahnenforschung“ eingerichtet, das den „biologischen und kulturellen Ursprung des Magyaren“ erforschen soll.

Kurz, vor diesem ideologischen Hintergrund ist die Entscheidung nur konsequent; auch, was den Punkt angeht, daß die daraus folgende Politik sich zugleich unsolidarisch mit anderen Völkern und Institutionen zeigt: Das eigene, das „biologische“ Volk kommt vor allen anderen, vor Ukrainern, EU-Verbündeten, oder NATO. Wer zum Volk gehört, das entscheidet die Biologie, nicht der Paß. Denn wenn Ungarïnnen eine „Art“ sind, die „aussterben“ kann, dann eint sie nicht die Kultur oder Geschichte, sondern die Biomasse.

Dazu paßt auch, daß Orbán die „ethnischen Ungarn“, die er angeblich schützen will, zugleich vereinnahmt: Niemand hat sie gefragt, wo ihre Loyalitäten liegen, und ob sie die Unterstützung für die Ukraine vielleicht begrüßen würden. Vom Standpunkt der Ideologie betrachtet sind diese Leute vor allem Ungarn, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft und ihren womöglichen Loyalitäten. Denn, das zeigt der Verweis auf die Ethnie, diese Zusammengehörigkeit ist biologisch bedingt. Wobei die Biologie schwerer wiegt, höher steht, als andere Kategorien.

Von dieser im wahrsten Sinne „völkischen“ Ideologie abgesehen, dürfte Viktor Orbán sich dem Putin-Regime auch auf anderen Ebenen nahe fühlen. So lehnen er und seine Partei die liberale Demokratie ab; erklärtes Ziel ist es, Ungarn zu einem illiberalen Staat zu machen, weil dies laut Orbán die am besten geeignete Staatsform sei, eine Nation erfolgreich zu machen – wobei er explizit China, die Türkei und Rußland als Vorbilder nennt. Auch in Bezug auf Träume von alter Größe dürfte er sich Putin nahe fühlen: So wie dieser von einem großrussischen Reich träumt, vermißt auch er das alte „Großungarn“, das alle Siedlungsgebiete der „ethnischen Ungarn“ bzw. Magyaren umfaßte. Unter Regie der FIDESZ-Partei wurde sogar der Bezug auf die alte ungarische Krone – die Stephanskrone – in der Verfassung verankert.

Gewiß gibt es neben diesen ideologischen Bezügen auch ein rein praktisches Kalkül. Orbáns Entscheidung – seit Ausrufung des Ausnahmezustands wegen der Covid-Pandemie regiert er per Dekret, also autokratisch – ist auch ein innenpolitisches Signal an seine nationalistischen Anhängerïnnen; zugleich eines an die im Ausland lebenden Ungarïnnen. Diese erhalten einerseits ein Schutzversprechen, das sie auf Orbáns Seite ziehen soll; und erfahren gleichzeitig, daß man auf sie Anspruch erhebt. Zudem muß er diese Klientel, die er finanziell massiv unterstützt, auch bei der Stange halten; um so mehr, da diejenigen, die zugleich die ungarische Staatsbürgerschaft haben, also auch formell Staatsbürgerïnnen sind, in Ungarn wählen dürfen. Zu guter Letzt verweist der Umstand, daß man den Waffenlieferungen ja vorher zustimmte, auf bewußtes Taktieren. Viktor O. balanciert zwischen dem Westen und der Rus wie ein Tänzer auf dem Seil.

Es treffen sich hier also Ideologie und ganz banales, praktisches Kalkül; aber wie schwer wiegt das? Auch andere EU-Länder grenzen an die Ukraine; Ungarns Verweigerung dürfte Nachschublieferungen also höchstens erschweren, aber nicht wirklich gefährden. Ist Orbáns Verhalten also angesichts der Lage nicht eine vernachlässigbare Marginalie?

Nicht ganz. Orbáns Sympathien gelten Autokratien und deren „Führern“; und seine „völkische“, mithin also rassistische Ideologie stellt einen Sprengstoff ganz eigener Art dar. Wie gesagt vermissen er und vermutlich auch viele Anhängerïnnen die alten, ungarischen „Heiligen Länder der Stephanskrone“. Auf die entsprechenden Gebiete erhebt man keinen Anspruch – noch nicht; aber das kann ja noch werden. Derzeit, gewiß, ist das eine weit hergeholte Spekulation; aber Ungarns Alleingang bedeutet eben auch, daß man Viktor Orbán und sein Regime wird im Auge behalten müssen. Mehr als bisher jedenfalls, da man Einschränkungen der Pressefreiheit bis zur totalen Kontrolle, und andere Eskapaden eher achselzuckend abtat – so wie die Entwicklung in Rußland auch.

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