Aus gegebenem Anlaß wieder einmal ein – leider – mehrseitiger Artikel:
Es gibt eine illusorische Vorstellung, daß es in der Außenpolitik um einen Konflikt „Gut gegen Böse“ ginge. Tatsächlich geht es bei solchen Konflikten immer nur um Macht, sei sie nun hegemonialer, wirtschaftlicher oder militärischer Art.
Diese Idee, der viele Menschen anhängen, tritt gerade im aktuellen Ukraine-Krieg wieder verstärkt zutage. Das Geschehen ist tatsächlich ideal geeignet, sie allem Anschein nach zu bestätigen.
Der Anschein ist dabei nicht einmal falsch: Er beleuchtet die Ukrainerïnnen als die Guten, Putin & Co. als die Bösen. Und in gewisser Weise stimmt das auch. Putin ist ein Diktator, der Meinungs- und Pressfreiheit unterdrückt, politische Gegnerïnnen sogar ermorden läßt; die Ukraine ist – trotz aller Mängel, z.B. in Sachen Korruption – demokratisch verfaßt, wird unter absurden Vorwänden angegriffen, erleidet hohe Opfer an Zivilistïnnen durch die russische Aggression. Die Grenzlinie zwischen „Gut“ und „Böse“ scheint leicht zu ziehen.
Aber genaueres Hinsehen enthüllt, daß sie uneindeutig wird, insbesondere, wenn man den Konflikt „Gut gegen Böse“ als einen von „Freiheit gegen Autokratie“ darstellt; eine Formel, die wohl im Begriff steht, das Motto des neuen Kalten Krieges zu werden, während es im alten „Freiheit gegen Kommunismus“ lautete.
Gut, demokratisch, freiheitlich gegen böse, autokratisch, diktatorisch – diese Unterscheidung verschwimmt besonders stark, wenn man – ob aus Verzweiflung, Berechnung, oder Wurschtigkeit – in der Wahl der eigenen Verbündeten nicht gerade zimperlich ist. Das haben Großmächte wie die USA erfahren, oft zu ihrem späteren Nachteil; das ist eine Erfahrung, die der Ukraine und dem Westen bevorstehen könnte.
Das Problem: Gerade die demokratischen Kräfte des Westens müßten hier besonders hellhörig und transparent sein, um nicht die putinsche Propaganda scheinbar zu bestätigen; und die Verantwortlichen in der Ukraine müßten es noch mehr sein, um unabsehbare Folgen abzuwenden (außer, man wollte annehmen, daß diese Folgen ihnen aufgrund der aktuellen Lage egal, oder vielleicht sogar unabhängig von dieser willkommen sind).
Schön. Wovon rede ich hier? Zwei Beispiele.
Erstens: Wolodymyr Selenskyj ist zweifellos ein Held. Ich meine das vollkommen ehrlich. Er bleibt in seiner Hauptstadt, bei seiner Bevölkerung, trotzt den Invasoren mit unvorstellbarem Mut, verhandelt, organisiert und argumentiert; erweist sich als Regierungschef, wie man ihn sich mutiger, verantwortungsvoller und kompetenter nicht denken kann. Zugleich tut er einige Dinge – wie gesagt vielleicht aus Verzweiflung, aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus, oder aus Ignoranz, oder nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ –, die demokratische Bobachterïnnen beunruhigen müßten. So hat er sich kürzlich mit einigen osteuropäischen Staatschefs getroffen, die ihrerseits für eine nationalistische, antidemokratische Politik stehen, wie z.B. das Magazin quer des BR in Erinnerung ruft. Zugleich stellt er neben vernünftigen Forderungen auch solche, die kaum zu erfüllen sind: Etwa die nach einer Flugverbotszone, gesichert durch westliche Militärflugzeuge, oder die, daß ein NATO-Staat die Sicherheit der Ukraine garantieren soll, falls diese neutral wird. Selenskyj muß wissen, daß beides die NATO in eine direkte Konfrontation mit Rußland ziehen, und so einen dritten Weltkrieg auslösen könnte. Zugleich baut er geschickt Druck auf, solchen Forderungen zu entsprechen. Er lädt z.B. andere westliche Staatschefs ein, nach Kiew zu kommen, und sagt, so könnten sie zu „Helden“ werden – was Blödsinn ist: Weder wäre das gefährlich, weil man sich vorher bei den Russen rückversichern könnte, wie es auch seine kürzlichen Besucher gewiß taten, noch würde es etwas nützen. Die eigentliche, versteckte Botschaft dieser Einladung: Wer nicht kommt, ist ein Feigling; wer meine Forderungen nicht erfüllt, ist ein Feigling. Selenskyj ist ein durchaus geschickter Kommunikationsstratege, was aktuell nicht Vielen aufzufallen scheint. Hier wird moralischer Druck aufgebaut, was angesichts der Lage legitim ist; doch das kann fatale Folgen haben. Zum Beispiel eine Spaltung des westlichen Lagers in die Guten und die Bösen, die Tapferen und die Feigen; wobei das Kriterium die Erfüllung Selenskyjscher Wünsche ist. Und eine Entwicklung, in der andere demokratiefeindliche Autokraten als Putin plötzlich als die Guten dastehen.