Es ist Sommer 2022, ich habe Urlaub, und ich habe endlich den letzten Band der vierteiligen Comicreihe Spirou oder die Hoffnung gelesen; es war eine lange Reise, seit die Serie 2018 begann – ja, vier Jahre lang, und die Reise hat sich gelohnt. Zeit für eine Rezension.
Vielleicht zuerst eine Erklärung: Spirou oder die Hoffnung ist u.a. das Resultat einer Tendenz, die sich schon länger im frankobelgischen Comicmarkt etabliert hat; nämlich die Schaffung von Hommagen, teilweise auch Umdeutungen alter Helden und Heldinnen. Unabhängig davon, ob Serien noch laufen oder nicht, nehmen sich unterschiedliche Autorïnnen und Zeichnerïnnen der bekannten Figuren an, um ihre eigene Version dieser Ikonen zu schaffen. Diese Neufassungen laufen außerhalb der „normalen“ Serien (meist unter dem Übertitel Le Spirou de …, Le Valerian de … etc., bei Carlsen auf deutsch meist als „Spezial“). Sie kommen manchmal als Hommage daher, wie Ralph Königs jüngstes Lucky Luke-Album, manchmal aber auch als komplette Neufassung oder Umdeutung. Der kommerzielle Hintergrund ist natürlich der, daß die betreffenden Serien entweder offiziell eingestellt sind und man anders kein neues Material herausbringen kann, oder daß sie, falls sie noch laufen, so oft „modernisiert“ wurden, daß inzwischen erwachsene Fans sie nicht wiedererkennen (während die Originalfolgen heutzutage altbacken oder überholt wirken). Man will also erwachsene Leserïnnen, Nostalgikerïnnen, vielleicht auch neue Fans ansprechen, die mit dem alten Material nichts anfangen könnten.
Im Fall von Spirou und Fantasio äußert sich das so, daß manche Autorïnnen und Zeichnerïnnen voll auf der Retroschiene fahren. Z.B. verlegen Schwartz & Yann mit Die Leopardenfrau und Der Meister der schwarzen Hostien die Abenteuer der beiden Helden zurück in die Nachkriegsjahre, nah an ihren Ursprung (Spirou entstand 1938, also ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs); der Zeichenstil imitiert nicht direkt den von Spirou-Erfinder Rob Velter, sondern wirkt wie eine moderne Fassung des Strichs des sehr frühen Franquin, und damit zugleich authentisch und aktuell.
An sich bin ich kein Freund solcher Aktivitäten. Verlagsseitig drückt sich darin (auch) ein inzwischen typisches, kapitalistisches Ausschlachtungsinteresse aus, das noch den letzten Tropfen Leben aus jedem Gut herausquetschen will; das gewissermaßen das neoliberale Mantra von Erfolgs-Coaches umformuliert zu „Wenn dein Pferd tot ist, steig nicht ab“. Was sich z.B. auch im Bereich von TV-Serien und Filmfranchises zeigt (wo es uns in jüngerer Zeit ein so erbärmliches Schauspiel wie Star Trek: Picard beschert hat). Das Ganze ist dennoch mehr als ein bloßes Geschäftsmodell; denn es gibt Kreativen Gelegenheit, ihren Enthusiasmus für ikonische, vielleicht in der Kindheit geliebte Figuren auszudrücken und der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen. Manchmal stecken echte Begeisterung, und gute Ideen dahinter; wenn das der Fall ist, kann man sich nur freuen.
Die Ergebnisse solcher Experimente fallen also unterschiedlich aus – manchmal sind sie ganz amüsant, manchmal interessant; und manchmal großartig. Womit wir endlich zu Spirou oder die Hoffnung kommen.
Autor und Zeichner Émile Bravo unternimmt hier ein gewagtes Unterfangen: Er verlegt die Abenteuer von Spirou und Fantasio in die Zeit der deutschen Besatzung Belgiens – in den zweiten Weltkrieg. In eine sehr düstere Zeit also, die eine angemessene Erzählweise und Perspektive verlangt; wobei aber andererseits die Markenzeichen der Serie – Abenteuer und Humor – doch zu ihrem Recht kommen müssen.
Dieser Spagat gelingt ihm mit Bravour. Was den Humor angeht, ist er stellenweise deutlich schwarz und makaber: Im ersten Band herrscht im Hotel, in dem Spirou als Page arbeitet, eine Bombenstimmung, und Fantasio – der hier teilweise noch unbeherrschter, prahlerischer und dabei inkompetenter erscheint als in Franquins frühen Erzählungen – ist auf skurrile Weise mitverantwortlich für die Eroberung der belgischen Festung Eben-Emael durch die Deutschen; dennoch gelingt es Bravo, Tragik und Leid zu zeigen, ohne sie durch den Humor abzuschwächen, vielleicht auch, weil dieser Humor eine bittere, doch gerade darum mitfühlende Note erhält.