:: Die Faulen bleiben sitzen

. . . sagte heute in der Phoenix-Sendung Menschen in Europa – Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Udo van Kampen der Erstgenannte.

Gemeint waren natürlich die Menschen, die in den Flüchtlingsländern zurückbleiben – weil sie nicht die Leistung der Überquerung des Mittelmeers auf sich nehmen, weil sie zu alt, zu arm sind, um zu fliehen, oder vielleicht wie die Kurden den Kampf gegen den IS führen. Wohlgemerkt sind die Flüchtlinge auch mutiger als die Sitzenbleiber, sie trauen sich ja was (mehr als diejenigen, die bleiben und gegen Armut oder Terror vor Ort kämpfen). Es wären eben nicht die Faulen, die kämen, plauderte Herr Juncker – die blieben zuhause sitzen.

Aha.

Eine merkwürdige Auffassung – wobei der Mut und die Zähigkeit, und, ja, auch die Leistung der Flüchtlinge, die Europa erreichen, nicht geschmälert werden soll; auch diese Menschen vollbringen etwas, setzen sich ein Ziel und erreichen es (vorerst – die letzte Schranke, die sie zu überwinden haben, sind wir mit unserem Egoismus). Doch was soll die Gleichung, die jene, die nicht fliehen, zu Faulpelzen, Feiglingen, Menschen zweiter Klasse degradiert; die überhaupt Menschen in Wertvolle und Wertlose einteilt?

Es sei nicht „the scum“, der Abschaum also, der zu uns käme, hat Herr Sathom vor einiger Zeit anderswo im Internet vernommen.

Nun, Abschaum ist etwas, das auf einer Dreckbrühe oben schwimmt; aber das einmal beiseite. Bei den in unserer Gesellschaft oben schwimmenden jedenfalls trifft man immer wieder auf die Auffassung, daß es sich bei den Flüchtlingen um Menschen handelt, die irgendwie besser sind als Andere. Ihre Bildung wird betont, ihre Qualifikation; leistungswillige, besondere Menschen kämen da, heißt es, anders als – wer?

Eine kurdische Peschmerga-Kämpferin, die täglich Leib und Leben riskiert und deren Leuten auch von unserem neuen Kumpel, Herrn Erdogan, zugesetzt wird? Ein afrikanischer Aktivist oder Journalist, der vor Ort gegen Armut und Unrecht kämpft, ein Grieche oder Afrikaner, der bleiben muß, weil er die greisen Eltern nicht verlassen kann? Alles fauler, feiger, nicht leistungsbereiter Abschaum?

Oder die Armen Europas etwa, die hiesigen „Sitzenbleiber“ der Gesellschaft, die wohl faul und feige, also an ihrem Los selbst schuld sein müssen, die „Bildungsfernen“, die sich dadurch als weit weniger wertvoll erweisen, als ein Computerspezialist aus Indien?

Die Logik Junckers und anderer, die so reden, ist kaum weniger menschenverachtend als die der „besorgten“ Rassisten, die sich derzeit wieder rühren, bei PEGIDA und anderswo. Nur teilt sie die Menschen nicht in ethnische Kategorien von Wert und Unwert ein, sondern in ökonomische. Der wirtschaftlich (so hofft man) nützliche Mensch ist der Gute.

In solch kurzen Bemerkungen, wie sie Monsieur Juncker heute von sich gab, geschieht so vieles zugleich. Daß da Arme gegen Arme ausgespielt werden, wäre die Kurzfassung. Doch sie faßt es nicht ganz.

Verschleiert wird, daß unser Bildungssystem die Wohlhabenden bevorzugt, und jene Bildung, für die man die Neuankömmlinge lobt, den ökonomisch Schwächeren strukturell vorenthält – ihnen reibt man die Flüchtlinge unter die Nase, um ihre Lage als eigenes Verschulden darzustellen, über das der hochbezahlte Leistungsträger zurecht die Nase rümpfen darf.

Geleugnet wird da auch, daß der Notstand des deutschen Bildungssystems, den jetzt angeblich die Flüchtlingsfluten erzeugen, längst existiert und systembedingt ist. Ferner, daß wirtschaftliche Not und Krieg in den Herkunftsländern der Flüchtenden von uns Europäern und Deutschen erzeugt werden, ersteres etwa, indem Freihandelsabkommen und vorgebliche Entwicklungshilfe Afrika in Armut halten; und daß die Hochgebildeten, die von dort oder auch aus Griechenland fliehen müssen, hier für Niedriglöhne ausgebeutet werden. Bei uns, heißt es etwa, herrsche „Fachkräftemangel“ – was soviel bedeutet wie: die Wirtschaft will nicht ausbilden, sondern lieber Kompetenz abgreifen, in die anderenorts investiert wurde; was dort privat oder staatlich aufgewendet wurde, soll uns zugute kommen. Menschen, die einer Not entkommen müssen, die wir miterzeugt haben, werden ihren Herkunftsländern entzogen; ihre Ausbildung wurde dort finanziert, genutzt aber wird sie hier, während sie dort eben fehlt. Und, wie praktisch: weil sie trotzdem nicht „gleichwertig“ ist, braucht man deren Inhaber nicht anständig zu bezahlen. Eine neue Form des Kolonialismus findet da letzten Endes statt – man muß nicht mehr irgendwo hinfahren, um Leute als Sklaven einzufangen, man treibt sie zu sich; und sortiert dann in „Transitzonen“ aus, wer bleiben, und wer zum Verrecken wieder umkehren darf.

Noch einmal: Refugees Welcome ist auch Herrn Sathoms Motto. Und seinetwegen auch Wirtschaftsflüchtlinge, he, warum nicht. Gegen die Flüchtlinge richtet sich das eben Gesagte keineswegs, leugnet auch nicht die immense Leistung, die sie wirklich vollbracht, noch das Leid, das sie ertragen haben. Und schon gar nicht die Menschenpflicht, sie aufzunehmen, zu versorgen, ihnen einen Start und ein neues Zuhause zu bieten.

Doch es ist schäbig, wie gerade diese Menschen stattdessen zum Spielball von Interessen gemacht werden, mal hochgelobt, mal verteufelt, je nachdem, welche Klientel gerade erfreut werden soll. Oder wie es jedes Mal heißt, man müsse die Fluchtursachen beseitigen, ohne daß dergleichen dann folgt, da der Verweis auf die Ursachen nur Ausrede dafür ist, abzuweisen; ein Anlaß, die altbekannte „Das Boot ist voll“-Rhetorik abzuspulen.

Und eben auch dafür, hier existierende gesellschaftliche Schranken zu verstärken, am Mythos zu häkeln vom irgendwie immanent wertvolleren Menschen, der offenbar schon mit dem Leistungsgen zur Welt kam, und „the scum“.

Stattdessen denselben Respekt vor jedem Menschen, gleiche Chancen für alle – das hieße beispielsweise, ein faires Bildungssystem für Jeden, Migranten, Einheimische, einheimisch gewordene Migranten. Stattdessen werden neue Linien der Verachtung durch die Gesellschaft gezogen, und alte verstärkt – entscheiden einmal mehr etablierte Machteliten, wen sie zu den Futtertrögen zulassen (vielleicht, wenn er brav ist), und wen nicht.

Nein, sie sind keine Rassisten – in wertlosen Dreck und erwünschtes Personal teilen sie die Menschheit nach anderen Maßstäben ein. Teilen sie uns ein, gleich welcher Herkunft, die tatsächlich keine Rolle spielt – denn wir sind Brüder und Schwestern, ja, Herr Sathom nennt uns ausdrücklich so, homo sapiens, unsere Geschwister aus Syrien, Afrika, von sonstwoher, die wir doch alle ein gleiches Recht auf gutes Leben haben sollten.

Den Flüchtlingen aber ermöglichen, heimisch zu werden, integriert – wie soll das gelingen, wenn unsere Gesellschaft schon per se ein Zuhause nur denen bietet, die ökonomisch saturiert sind, auserwählten Kreisen angehören, alle Anderen aber im eigenen Haus unter der Treppe wegsperrt? Integration allen außer den angeblich allein Nützlichen verweigert?

Was die Flüchtlinge zu uns treibt, sind Unrecht, Unterdrückung, Armut und Not. Unsere Antwort? Die eigenen Dünkel und Mauern, auch innerhalb unserer Gesellschaft, zu verstärken. Klischees von verdienter Armut und höherem Menschenwert des „Gebildeten“ zu repetieren in dysfunktionaler Leugnung der tatsächlichen Mechanismen, die Menschen verarmen und verzweifeln lassen – überall.

Was wir zuallererst vermeiden, wenn wir von der Flüchtlings-“Krise“ sprechen (Krisen gehen vorüber, aber macht Euch da mal nichts vor, Leute), ist der Blick auf deren Kernproblem: Uns.

Das Publikum übrigens goutierte Herrn Junckers Bemerkung mit Applaus.

:: JournAfrica! – Die Sicht afrikanischer Journalisten

Na Leute, wißt Ihr auch so gut über Afrika bescheid? Daß da alle arm sind, Leopardenfelle anhaben und mit Speeren rumhopsen?

Schluß damit: Die Plattform JournAfrica! veröffentlicht – deutsch, englisch und französisch übersetzt – Texte afrikanischer Journalisten, die neben einheimischer Realität auch den afrikanischen Blick auf Europa wiedergeben. Die afrikanischen Blicke vielmehr, da der Kontinent keineswegs der gesellschaftlich homogene Brei ist, als den wir ihn gerne wahrnehmen.

Die Artikel belegen, daß nicht nur hiesige Medien über Afrika berichten, sondern umgekehrt auch afrikanische Journalisten kritische Blicke auf Europa werfen; dies auch eine Korrektur der leider noch häufigen Wahrnehmung, nur wir könnten analysieren und – gern mit dem postkolonialen Überlegenheitsgestus des vernünftigeren Abendländers, der auf dem Treppchen zur reinen Vernunft stets ein paar Schritte voraus ist – „einordnen“, was in anderen Teilen der Welt geschieht.

Und hättet Ihr gewußt, daß man auch in Burundi Charlie war, oder wie afrikanische Journalisten die Diskriminierung von Afroamerikanern in den USA kommentieren?

Die Zukunft von JournAfrica! ist noch ungeklärt, da die derzeit hauptsächlich von Fördergeldern abhängige Finanzierung nicht ewig währen wird; die Macher hoffen auf ein Gründerstipendium. Auch aus diesem Grund lohnt es, ab und zu mal vorbeizusurfen, und zu lesen: Klickzahlen, also Erfolg bzw. Attraktivität der Plattform könnten schließlich zum Argument für weitere Förderung sein. Oder sogar dazu führen, daß sich das Projekt über Weitergabe von Artikeln an Dritte irgendwann selbst trägt.

Ebenfalls zum Thema: Ein Bericht des Medienmagazins ZAPP