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:: Die Weizenlüge

Oder: Wie man eine Krise – in diesem Fall Krieg – als Ausrede nutzt, um die eigene politische Agenda durchzusetzen.

Arbeitsbedingt bin ich zwar einige Zeit lang nicht zum Bloggen gekommen, weshalb der konkrete Anlaß (Medienberichte) für diesen Artikel schon etwas zurückliegt (siehe dazu und zur erzwungenen Sommerpause auch hier); aber da er sich gut eignet, die Methode zu illustrieren, mit der in solchen Fällen vorgegangen wird, veröffentliche ich ihn dennoch (zumal die beschriebene Kampagne sicher weiterhin läuft).

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs nämlich pushen konservative Politiker und Agrarlobby – kürzlich gerade wieder der Bauernverband, aber auch Hersteller von Düngemitteln und Pestiziden – verstärkt eine Idee. Sie lautet: Massiver Ausbau der Intensiv-Landwirtschaft. Flächen, die bisher zwecks Umwelt- und Artenschutz von der Landwirtschaft freigestellt waren, sollen wieder bewirtschaftet werden – nämlich, um Weizen anzubauen. Und zwar in industriellen Ausmaß; es sollen also alle Beschränkungen für den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden, die in den letzten Jahren mühselig eingeführt wurden, wieder fallen. Natürlich nur vorübergehend (im Klartext: Wenn die Krise vorbei ist, sieht man mit neuen Ausreden weiter).

Das ökologische Desaster, das daraus folgen würde, kann man sich vorstellen. Das längst katastrophale Artensterben unter Insekten und Vögeln würde ebenso verstärkt wie der Klimawandel, wie die Gefährdung des Grundwassers, wie Bodenverdichtung und damit langfristige Unfruchtbarkeit. Das alles – so die Rhetorik – tritt angesichts der dringenden Notwendigkeit, so zu handeln, in den Hintergrund. Denn: Es gilt, Hungerkatastrophen, vor Allem in der sogenannten „Dritten Welt“, abzuwenden.

Tatsächlich klingt die Begründung zunächst plausibel. Bedingt durch den russischen Angriffskrieg liegen Tonnen von Weizen in der Ukraine fest, die nicht auf den Weltmarkt gelangen, weil die russische Schwarzmeerflotte den üblichen Export auf dem Seeweg verhindert. Der ukrainische Weizen fehlt also schon an sich auf den Weltmärkten; zudem treibt diese Lieferlücke die Preise hoch. Ärmere Länder, zumal in Afrika, können sich also den dringend benötigten Weizen nicht leisten, sofern er überhaupt auf den Markt kommt (erschwerend kommt hinzu, daß einige andere Weizenproduzenten, z.B. Indien, sich angesichts der Lage entschlossen haben, ihren Weizen aktuell nicht zu exportieren, sondern zu horten).

Daraus stricken die Befürworter ein moralisches Argument; eines , das sich zunächst tatsächlich unabweisbar anhört. Wer sich nämlich jetzt sträubt, lautete es, die von der EU bereits abgesegnete Linie umzusetzen, sei mitverantwortlich für Hungertod und Massensterben. So warf der AfD-Abgeordnete Stephan Protschka etwa kürzlich dem Landwirtschaftsminister Cem Özdemir – den man nicht mögen muß – vor, er sei „Schuld für [sic!] die Bilder der hungernden Kinder aus Afrika“.

Ich weiß gerade nicht, was mich an dieser Äußerung mehr aufregt – die pausbäckige Blödheit, mit der hier ein Klischee reproduziert wird, mit dem man sonst Kinder zum Aufessen bewegen will, die semantische Unfähigkeit (ist Herr Özdemir schuld am Hunger der Kinder, oder Schuld an den Kindern, oder schuld an den Bildern von diesen Kindern, die er ja wohl nicht selbst geknipst haben wird?) oder die geheuchelte Moralität – denn das Moralargument scheint unabweisbar, ist jedoch in Wirklichkeit besonders perfide, wie sich noch zeigen wird.

Okay. Was hat das mit dem eingangs genannten Thema zu tun? Nun – zwei Dinge. Erstens, was hier als Maßnahme gefordert wird, trüge zur Problemlösung überhaupt nicht bei; und zweitens, es werden ganz andere Ziele verfolgt, als die behaupteten. Also – was passiert hier?

:: Do you come for my Propaganda (2)

Ohne lange Vorrede zu weiteren Formen der Propaganda (Einleitung und andere Beispiele im ersten Teil):

Propaganda durch Verschweigen oder Verharmlosung

Auch hier gebärdet sich die russische Propaganda ganz klassisch. Begriffe wie „Krieg“ im Zusammenhang mit der Ukraine zu verwenden, ist gesetzlich verboten; es herrscht eine totalitäre Medienzensur. Dargestellt wird die Aktion als begrenzte, militärische „Spezialoperation“. Zahlen eigener Verluste werden geschönt, die Versenkung des eigenen Flaggschiffs als spontane Selbstentzündung verkauft. Der auf Internetplattformen ausgeübte Druck führt dazu, daß diese sich ganz aus Rußland zurückziehen oder, wie TikTok, sämtliche Erwähnungen des Krieges verbannen – wer sich in Rußland auf TikTok bewegt, müßte allein von den dort sichtbaren Postings nicht einmal wissen, daß in der Ukraine überhaupt etwas passiert.

Hier allerdings spielen westliche Medien auch gerne mit – wenn auch weniger offensichtlich.

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:: Do you come for my Propaganda

Reden wir über Propaganda. Es ist Krieg, und im Krieg zählt die Wahrheit zu den ersten Opfern, wie eine Binsenweisheit wissen will; unterhalten wir uns also darüber, wie das in der Praxis durch Propaganda erreicht wird, und wie sich verschiedene Formen dieser Beeinflussung erkennen lassen.

Denn während die meisten Menschen vermutlich meinen, Propaganda leicht erkennen und sich gegen sie wappnen zu können, ist es so einfach dann doch nicht.

Zu den Leuten, die sich für propagandaresistent halten, gehörte bis vor Kurzem auch Herr Sathom; er dachte bei „Propaganda“ an Leute, die geifernd hinter einem Podium herumfuchteln, oder an naßforsche Siegesmeldungen aus dem Volksempfänger. Die letzten Wochen gaben ihm Gelegenheit, hier etwas zu lernen. Wirklich „gut gemachte“ Propaganda ist manchmal nicht als solche zu erkennen; sehr gut gemachte kann sogar eine gewünschte Wirkung erzielen, obwohl (oder sogar weil!) sie als solche erkannt und durchschaut wird (dazu mehr im zweiten Teil).

Also, was ist Propaganda?

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:: Embargo und moralische Heuchelei

Nach Bekanntwerden der Greueltaten in Butscha werden immer mehr Stimmen laut, die ein vollständiges Energie-Embargo gegen die Sowjetunion das neue Zarenreich fordern. Umfragen zufolge sollen ca. 50% der Deutschen dafür, und 40% dagegen sein. Und: Moralisch ist diese Forderung vollkommen richtig. Und ehe wir uns falsch verstehen: Ich bin unbedingt für ein Embargo russischer Energielieferungen – trotz dessen, was ich im Weiteren schreibe; aber es kommt auf das „Wie“ an, und das Ende dieses Artikels wird vielleicht überraschen.

Denn ein zweiter Blick zeigt, daß es – wie immer bei moralischen Fragen – schnell uneindeutig wird; und daß moralische Sauberkeit dicht bei scheinheiliger Heuchelei liegt. Und, noch wichtiger, daß Moral stets etwas mit Privilegien zu tun hat. Man muß sie sich leisten können. Für die Moral leiden sollen andere.

Denn wer fordert die mit dem Embargo verbundenen Verzichtsleistungen, und wen würden sie am Härtesten treffen? Von Ukrainerïnnen, deren Standpunkt verständlich ist abgesehen, sind es anscheinend besonders Vertreter der gutsituierten Mittelschicht und der darüber liegenden Einkommensgruppen – z.B. Ex-Bundespräsident Joachim Gauck –, die finden, daß man für die gute Sache eben Opfer bringen, und im nächsten Winter auch mal frieren solle.

Aber wer würde frieren? Herr Gauck wohl kaum. Man kann sich denken, wen er meint.

Hier reden Leute, die steigende Energiekosten zwar spüren, aber kaum empfindlich unter ihnen leiden würden; viel härter treffen würde es Geringverdienerïnnen, Empfängerïnnen von Hartz IV, und die ganz Armen. Menschen also, denen ohnehin ständig härtester Verzicht auferlegt wird – von eben der bürgerlich bestimmten Gesellschaft, die nun noch größere, und zwar moralische Opfer von ihnen einfordert. Sie könnten sich u.U. ihre Heizkosten gar nicht mehr leisten, müßten tatsächlich frieren, sich Geld vom Budget für Lebensmittel abknapsen, usw., usf.

Einmal mehr kommt die Forderung, Opfer zu bringen, also von denjenigen, die selbst keine – oder nur ganz geringe – Opfer bringen würden; und ergeht an jene, die es am Schlimmsten treffen, die wirklich etwas opfern müßten.

Die Privilegierten finden, daß alle anderen bereit ein müßten, Entbehrungen auf sich zu nehmen; und machen wir uns nichts vor: Wenn Herr Gauck fordert, für die Freiheit müsse man auch mal frieren, dann meint er bestimmt nicht sich selbst. Auch im kommenden Winter hätte er seinen Hintern garantiert im Warmen geparkt. Es sind die, die ohnehin kaum das Nötigste haben, die draufzahlen sollen.

Das ist nun eigentlich reine, empathielose Heuchelei, die die Not anderer völlig ignoriert; nicht einmal zur Kenntnis nimmt, daß diese Menschen überhaupt existieren. Ironischerweise gründet sie jedoch in einem Gefühl eigener moralischer Überlegenheit. Es paart sich mit Menschenverachtung gegenüber den Ärmeren, die man als moralisch minderwertig wahrnimmt, falls man sie überhaupt zur Kenntnis nimmt.

Um Beispiele zu nennen: Als pandemiebedingt die Frage nach Heizkostenhilfen für ärmere Menschen aufkam, äußerte Robert Habeck sinngemäß, solche Hilfen würden die Leute nur animieren, die Heizung voll aufzudrehen und das Fenster aufzureißen. Er stellt sich also vor, daß Hartz-IV-Empfängerïnnen und andere „Unterschichtlerïnnen“ genau das tun würden, griffe man ihnen unter die Arme. Weil „die da“ eben so sind. Das erinnert an die vor einigen Jahren geführte Debatte um Bildungszuschüsse für Kinder aus Hartz-Familien; auch da hieß es als Gegen-“Argument“, die Eltern würden das Geld ja ohnehin nur für Alkohol und Zigaretten ausgeben. Und erst kürzlich unterschied der inzwischen abgewählte Ministerpräsident des Saarlands, als es um Benzinkostenzuschüsse ging, zwischen den ärmeren Teilen der Bevölkerung und den „fleißigen“ Menschen, die ihr Auto bräuchten, um zur Arbeit zu kommen. Dieser Sozialdarwinismus, der den Unterprivilegierten eine moralische Minderwertigkeit unterstellt, ist in „gehobenen“ Kreisen weit verbreitet; in der bürgerlichen Mittelschicht und den akademischen Milieus sogar fest verankert. Aus ihr beziehen diese Gruppen ihr Gefühl eigener Höherwertigkeit, diese wiederum begründet mit moralischer Überlegenheit. Ausweis dieser Vorzüge ist der eigene, soziale Status – er garantiert, daß man im Zweifelsfall jedem Niedriglöhner, jeder Putzfrau überlegen ist. Tatsächlich findet man, daß diese ihre Armut quasi als gerechte Strafe verdienen.

:: Warum die NATO nicht in der Ukraine eingreifen sollte (2)

Zunächst einmal, um es erneut zu betonen: Nichts vom hier Gesagten bedeutet, daß ich Hilfen – auch Waffenlieferungen – für die Ukraine für falsch halte, oder nicht auf der Seite der Ukrainerïnnen wäre. Das nur vorweg. Aber sollte die NATO direkt – mit Truppen – in der Ukraine eingreifen?

Ich habe bisher drei Gründe aufgezählt, weshalb ich solche Forderungen für falsch halte. Viertens ist jetzt aber der Augenblick da, selbstkritisch zu fragen, ob ich mich womöglich irre. Wie gesagt sind viele Analystïnnen und Expertïnnen ja der Ansicht, daß die NATO eingreifen könnte und sollte – Leute, die sich ja wohl auch mit dem Nordatlantikpakt auskennen.

Zunächst einmal vorab: Die betreffenden Expertïnnen sind teilweise dieselben, die vor Putins Einmarsch der Ansicht waren, daß er niemals einmarschieren würde; und nach dem Einmarsch sicher, daß die Ukraine in drei Tagen fallen würde. Soviel dazu. Oder vielleicht noch: Es wurde (und wird) derzeit viel Kaffeesatzleserei betrieben, bei der Wunschdenken das Nachdenken ersetzt; ich komme am Ende des Artikels darauf zurück.

Aber – könnte Herr Sathom mit seiner Einschätzung völlig falsch liegen?

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:: Warum die NATO nicht in der Ukraine eingreifen sollte (1)

Schön. Also. Da zur Zeit immer wieder entsprechende Forderungen laut werden – teils seitens irgendwelcher Schreihälse in den sozialen Netzwerken, teils auch von prominenter Seite – sei es hier noch einmal eindeutig gesagt: Die NATO kann gar nicht in den Ukraine-Krieg eingreifen. Das hat nichts mit Zögerlichkeit zu tun oder gar Feigheit, mit Angst vor Putins Reaktion; es geht auch nicht darum, ob es mir oder irgendwem, der Putins Angriffskrieg verabscheut, gefällt. Sie kann es einfach nicht. Punkt.

Da Viele das aber offenbar nicht zu verstehen scheinen (oder es nicht verstehen wollen), hier noch einmal die simple Erklärung.

Vorweg aber: Derzeit hat die NATO qualitativ und quantitativ die Kapazität, Rußlands Militär – um es einmal martialisch auszudrücken – schlicht zu pulverisieren. Und wäre dann immer noch in der Lage, mit China zu tanzen. Immer vorausgesetzt, der Krieg bleibt konventionell, und mal abgesehen davon, daß es trotz ihrer militärischen Überlegenheit nicht einfach wäre, sondern eine blutige, grauenhafte Schlächterei – was Militärs allerdings noch nie abgehalten hat. Mit Angst hat das Ganze also nichts zu tun. Es gibt eine Reihe anderer Gründe, von denen wir uns einen einmal eingehender ansehen wollen.

Was ist die NATO? Ein Verteidigungsbündnis. Und zwar dient es der Verteidigung ihrer Mitglieder (und nur dieser). Was die NATO kann bzw. darf und was nicht, ist eindeutig geregelt; nämlich im „Nordatlantikvertrag“. Sozusagen in einer NATO-eigenen Verfassung.

Und die ist ziemlich klar, was das anbelangt. Der Dreh- und Angelpunkt ist Artikel 5, der den Bündnisfall regelt. Dieser tritt ein, wenn ein NATO-Mitglied oder mehrere (und nicht irgendwer anders) angegriffen wird bzw. werden; dann, und nur dann, ist eine militärische Reaktion zulässig. Ergänzend verfügt Artikel 6, daß dies nicht nur für Angriffe auf das Territorium von NATO-Mitgliedern gilt, sondern auch für Attacken auf deren Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge (sofern diese sich im Vertragsgebiet befinden, zu dem auch Europa zählt – das wird im Weiteren noch wichtig).

Was würde nun geschehen, wenn die NATO – wie es kürzlich etwa Deniz Yücel forderte – in der Ukraine eine Flugverbotszone ausruft? Ganz zu schweigen davon, gleich direkt auf russische Truppen loszugehen, wie es mache Internet-Diskutanten gern hätten?

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:: Gut gegen Böse, eine Illusion

Aus gegebenem Anlaß wieder einmal ein – leider – mehrseitiger Artikel:

Es gibt eine illusorische Vorstellung, daß es in der Außenpolitik um einen Konflikt „Gut gegen Böse“ ginge. Tatsächlich geht es bei solchen Konflikten immer nur um Macht, sei sie nun hegemonialer, wirtschaftlicher oder militärischer Art.

Diese Idee, der viele Menschen anhängen, tritt gerade im aktuellen Ukraine-Krieg wieder verstärkt zutage. Das Geschehen ist tatsächlich ideal geeignet, sie allem Anschein nach zu bestätigen.

Der Anschein ist dabei nicht einmal falsch: Er beleuchtet die Ukrainerïnnen als die Guten, Putin & Co. als die Bösen. Und in gewisser Weise stimmt das auch. Putin ist ein Diktator, der Meinungs- und Pressfreiheit unterdrückt, politische Gegnerïnnen sogar ermorden läßt; die Ukraine ist – trotz aller Mängel, z.B. in Sachen Korruption – demokratisch verfaßt, wird unter absurden Vorwänden angegriffen, erleidet hohe Opfer an Zivilistïnnen durch die russische Aggression. Die Grenzlinie zwischen „Gut“ und „Böse“ scheint leicht zu ziehen.

Aber genaueres Hinsehen enthüllt, daß sie uneindeutig wird, insbesondere, wenn man den Konflikt „Gut gegen Böse“ als einen von „Freiheit gegen Autokratie“ darstellt; eine Formel, die wohl im Begriff steht, das Motto des neuen Kalten Krieges zu werden, während es im alten „Freiheit gegen Kommunismus“ lautete.

Gut, demokratisch, freiheitlich gegen böse, autokratisch, diktatorisch – diese Unterscheidung verschwimmt besonders stark, wenn man – ob aus Verzweiflung, Berechnung, oder Wurschtigkeit – in der Wahl der eigenen Verbündeten nicht gerade zimperlich ist. Das haben Großmächte wie die USA erfahren, oft zu ihrem späteren Nachteil; das ist eine Erfahrung, die der Ukraine und dem Westen bevorstehen könnte.

Das Problem: Gerade die demokratischen Kräfte des Westens müßten hier besonders hellhörig und transparent sein, um nicht die putinsche Propaganda scheinbar zu bestätigen; und die Verantwortlichen in der Ukraine müßten es noch mehr sein, um unabsehbare Folgen abzuwenden (außer, man wollte annehmen, daß diese Folgen ihnen aufgrund der aktuellen Lage egal, oder vielleicht sogar unabhängig von dieser willkommen sind).

Schön. Wovon rede ich hier? Zwei Beispiele.

Erstens: Wolodymyr Selenskyj ist zweifellos ein Held. Ich meine das vollkommen ehrlich. Er bleibt in seiner Hauptstadt, bei seiner Bevölkerung, trotzt den Invasoren mit unvorstellbarem Mut, verhandelt, organisiert und argumentiert; erweist sich als Regierungschef, wie man ihn sich mutiger, verantwortungsvoller und kompetenter nicht denken kann. Zugleich tut er einige Dinge – wie gesagt vielleicht aus Verzweiflung, aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus, oder aus Ignoranz, oder nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ –, die demokratische Bobachterïnnen beunruhigen müßten. So hat er sich kürzlich mit einigen osteuropäischen Staatschefs getroffen, die ihrerseits für eine nationalistische, antidemokratische Politik stehen, wie z.B. das Magazin quer des BR in Erinnerung ruft. Zugleich stellt er neben vernünftigen Forderungen auch solche, die kaum zu erfüllen sind: Etwa die nach einer Flugverbotszone, gesichert durch westliche Militärflugzeuge, oder die, daß ein NATO-Staat die Sicherheit der Ukraine garantieren soll, falls diese neutral wird. Selenskyj muß wissen, daß beides die NATO in eine direkte Konfrontation mit Rußland ziehen, und so einen dritten Weltkrieg auslösen könnte. Zugleich baut er geschickt Druck auf, solchen Forderungen zu entsprechen. Er lädt z.B. andere westliche Staatschefs ein, nach Kiew zu kommen, und sagt, so könnten sie zu „Helden“ werden – was Blödsinn ist: Weder wäre das gefährlich, weil man sich vorher bei den Russen rückversichern könnte, wie es auch seine kürzlichen Besucher gewiß taten, noch würde es etwas nützen. Die eigentliche, versteckte Botschaft dieser Einladung: Wer nicht kommt, ist ein Feigling; wer meine Forderungen nicht erfüllt, ist ein Feigling. Selenskyj ist ein durchaus geschickter Kommunikationsstratege, was aktuell nicht Vielen aufzufallen scheint. Hier wird moralischer Druck aufgebaut, was angesichts der Lage legitim ist; doch das kann fatale Folgen haben. Zum Beispiel eine Spaltung des westlichen Lagers in die Guten und die Bösen, die Tapferen und die Feigen; wobei das Kriterium die Erfüllung Selenskyjscher Wünsche ist. Und eine Entwicklung, in der andere demokratiefeindliche Autokraten als Putin plötzlich als die Guten dastehen.

:: Ein paar Gedanken zu Demonstranten

Ist mir nur so aufgefallen: In Rußland gehen derzeit Menschen gegen den Ukraine-Krieg auf die Straße, obwohl es für sie schwerste Konsequenzen haben kann. In Deutschland haben Menschen zwei Jahre lang gegen Maskenpflicht und Corona-Maßnahmen demonstriert, weitgehend unbehelligt von der Polizei; sich aber gleichzeitig als heldenhafte Freiheitskämpferïnnen und Verfolgte eines Unrechtsregimes dargestellt, das ihnen Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit raubt.

Ich habe nicht bemerkt, daß irgend jemand von diesen Leuten, die auf ihr Demonstrationsrecht so großen Wert legen, es jetzt für Teilnahme an Antikriegsdemos nutzen. Vielleicht tun das einige, und ich hab’s nicht mitbekommen; aber für viele gilt das Gegenteil. Die Querdenker-Szene scheint auf einen Pro-Putin-Kurs einzuschwenken.

Hier also Egoistïnnen, die schon ein paar Einschränkungen ihrer Bequemlichkeit zugunsten der Allgemeinheit als verbrecherischen Anschlag auf ihre Freiheit empfinden – und sich selbst als tapfere Heldïnnen, die dem ultimativen Bösen die Stirn bieten. Jede(r) mindestens eine Sophie Scholl oder ein Georg Elser, wenn man nicht gleich die Verfolgten des Nazi-Regimes verhöhnt, indem man sich mit ihnen gleichsetzt.

Dort Menschen, die wirklichen Widerstand leisten; die Leib und Leben riskieren, um gegen Putin zu opponieren – von den Ukrainerïnnen, die Furchtbares durchmachen und weiterkämpfen, ganz zu schweigen. Und was tun die hiesigen Möchtegerne? Genau.

Wie gesagt: Ist mir nur so aufgefallen.

:: Ukraine, Flucht, und Rassismus (2)

Im letzten Teil ging es um rassistische Ungleichbehandlung von Menschen, die aktuell aus der Ukraine zu fliehen versuchen; darum, daß sie je nach Hautfarbe bevorzugt, oder benachteiligt werden. Doch hinter solchen Ausbrüchen verbirgt sich ein tiefer liegender, systemischer Rassismus – ein Denken, das eine Unterscheidung in Flüchtende „erster und zweiter Klasse“ überhaupt erst ermöglicht. Und das weiter verbreitet ist, viel unbemerkter bleibt, als solche Exzesse. Auch, weil es vielen von uns so normal, so zutreffend, so – plausibel erscheint, daß wir es überhaupt nicht als anstößig wahrnehmen. Darum soll es im zweiten Teil gehen (Kenntnis des ersten wird empfohlen).

Wovon reden wir hier? In journalistischen Darstellungen, Äußerungen von Politikern, und empathischer Berichterstattung zeigt sich aktuell oft ein latenter und zugleich systemischer Rassismus. Einer, der den Beteiligten vielleicht nicht einmal bewußt ist (was die Sache nicht besser macht; vielmehr zeigt, wie tief die rassistischen Klischeevorstellungen sitzen).

Beispiele gibt es zuhauf. Wie das Portal ÜberMedien kommentiert, würden Medienberichte und Interviewäußerungen implizieren, die ukrainischen Flüchtenden wären „im positiven Sinne ‚anders’“ als solche, die etwa aus Syrien oder Afghanistan kommen; oft werde betont, diese Flüchtlinge wären weiß, christlich, „wie wir“ und deshalb „zivilisiert“ (implizit: die anderen sind es nicht). Und tatsächlich – Kommentatorïnnen und Politikerïnnen arbeiten sich fast lustvoll an der Unterscheidung zwischen „uns“, den „Zivilisierten“ und „denen“, den „Unzivilisierten“ ab; finden es offenbar ganz normal, daß in den Ländern, aus denen „die da“ kommen, Kinderkrankenhäuser zerbombt werden, und die gleichen Taten, die die russische Armee auch in Syrien beging, hier in Europa aber viel schrecklicher. Sprechen sogar explizit aus, daß es, wenn es hier in Europa geschieht, schrecklicher sei (siehe ÜberMedien-Kommentar).Besonders beliebt ist auch die Betonung des „Christlichen“ als gemeinsames Moment mit ukrainischen Flüchtenden (das werden nichtchristliche Ukrainerïnnen, etwa Präsident Wolodymyr Selenskyj, der jüdischen Glaubens ist, sicher gern hören). Wie unverhohlen die Beteiligten der Krawallsendung Hart aber Fair solche Klischeevorstellungen kürzlich raushauten, verschlägt einem schon die Sprache. Daß sie es unwidersprochen taten, belegt die Plausibilität, die diese Vorurteile offenbar weithin noch haben.

Der YouTuber Beau of the Fifth Column hat das Thema dieses systemischen Rassismus in einem ausgezeichneten Video weit besser aufbereitet, als ich es könnte; z.B. hinsichtlich des Entsetzens darüber, daß so etwas „mitten in Europa“ stattfindet. Wie er treffend aufzeigt, beruht dieses Entsetzen auch darauf, daß hier Weiße so etwas anderen Weißen antun – weil es bei „zivilisierten“ Europäern – anders als bei den „Unzivilisierten“ da unten – verwundert. Herrn Sathom erinnert das an die berühmte Frage, wie Deutschland, das „Land der Dichter und Denker“, so eine Scheiße wie das Nazireich hervorbringen konnte. Daß das verstört, zeigt eben auch, daß wir barbarisches Verhalten bei weißen „Kulturmenschen“ beunruhigend, bei Nichtweißen, bei Tutsi und Hutu zum Beispiel, dagegen als völlig normal empfinden. Weil es unserer Vorstellung von diesen Menschen entspricht.

Ich kann dem kaum etwas hinzufügen. Daß die „Argumente“, die eine Einteilung Geflüchteter in Flüchtlinge erster und zweiter Klasse rechtfertigen, rassistisch sind, würde ich dennoch gern an drei Gedankenexperimenten aufzeigen.

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:: Ukraine, Flucht, und Rassismus

Sprechen wir vom Elefanten im Raum; sprechen wir über ein Thema, von dem ich wünschte, ich müßte es nicht besprechen.

Wie ich es angehen soll, habe ich länger überlegt – denn ich fürchtete Mißverständnisse. Eines will ich daher vorab klar sagen: Ich bin in der momentanen Situation völlig auf Seiten der Ukraine; ihrer Bürgerinnen und Bürger, deren heldenhafter Mut Bewunderung weckt, und deren Leiden mein ganzes Mitgefühl gilt. Das sollte außer Zweifel stehen. Nichts von dem, was ich im Weiteren schreibe, ist gegen diese Menschen gerichtet, und natürlich bin ich der Auffassung, daß den derzeit Flüchtenden jede nur erdenkliche Hilfe zuteil werden soll; Wohnungen, Arbeitsmöglichkeiten, alles großartig.

Dennoch scheint es mir nötig, auch eine Kehrseite des Ganzen zu beleuchten. Um so mehr, als es viele Arten von Propaganda gibt – die der offensiven Lüge, wie sie die russische Regierung betreibt, aber auch eine Propaganda des Weglassens; etwa, indem man unschöne Entwicklungen auf der eigenen Seite verschweigt, oder nur randständig behandelt. (Nicht, daß westliche Medien hier etwas verschweigen würden; sie agieren insofern erfreulich „unpropagandistisch“. Aber dazu unten mehr.)

Also, sprechen wir es offen aus: Es geht um Rassismus. Einen, der bei der Behandlung Flüchtender aus der Ukraine sichtbar wird. Nicht den Ukrainerinnen gegenüber, die ohne männliche Verwandte das Land verlassen müssen; sondern gegenüber Personen, die nicht weiß, blond und blauäugig sind.

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