:: Rausholen und aufnehmen

Es ist beschämend: Nachdem die Karre in Afghanistan nun mal in den Dreck gefahren ist – dazu, von wem, über welchen Zeitraum, und seit wann, hier eine gute Zusammenfassung – bangen zahllose Afghanïnnen um ihr Leben, weil sie ausländischen Streitkräften, privaten Hilfsorganisationen, NGOs geholfen haben – als Dolmetscherïnnen zum Beispiel; hinzu kommt die Zahl derer, die sich z.B. für Frauenrechte engagierten, die als Lehrerïnnen Mädchen unterrichteten, Journalistïnnen, kurz, sehr, sehr viele Menschen. Die Rede ist hier also nicht nur von Ortskräften der Bundeswehr, oder überhaupt des Militärs. Nicht alle, die jetzt in Gefahr schweben, haben direkt mit den Streitkräften zusammengearbeitet; viele haben sich einfach „nur“ engagiert.

Der Sieg der Taliban mag überraschend schnell gekommen sein – weshalb es jetzt auch allenthalben heißt, man habe sie Lage falsch eingeschätzt oder unterschätzt, und Fragen aufkommen, wie das geschehen konnte (weshalb, z.B. Warnungen aus der deutschen Botschaft konsequent ignoriert wurden). Für viele dieser Helferïnnen, die an eine bessere Zukunft glaubten und auf sie hinarbeiten wollten, kommt also schon jede Hilfe zu spät; abgeschnitten im eroberten Land sitzen sie irgendwo fest, während die Häscher schon Jagd auf sie machen – trotz anderslautender, vollmundiger Versicherungen.

Das Beschämende ist nicht, daß das so ist – an dieser Lage läßt sich ja nichts ändern; sondern, daß es nicht so hätte kommen müssen. Das Tempo der Ereignisse ist nämlich keine Ausrede – weil sie schon seit Monaten absehbar waren.

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:: Angst und Armut als Kapital

Neulich berichtete die linksversiffte Postille neues deutschland über die Augsburger Sozialsiedlung „Fuggerei“; den Umstand, daß die Zahl der Bewerber für diese (in einiger Hinsicht eigentümliche) Siedlung zunimmt, kommentiert der Artikel mit dem bemerkenswerten Satz: „Als sei der Sozialstaat nicht mehr fähig, Armut zu verhindern.“

Ähm … ach was, echt jetzt? Kleiner Tipp: Stimmt, ist er nicht; war er auch noch nie. Soll er nämlich auch gar nicht.

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist vor allem zunächst eines: kapitalistisch organisiert. Armut aber ist im Kapitalismus kein Unfall, der einigen Unglücklichen halt passiert; sie ist ausdrücklich erwünscht. Sie ist kein Fehler im System, kein tragisches Schicksal; sie ist gewollt, es soll sie geben.

Der Reiche braucht den Bettler mehr, als umgekehrt

Das hat verschiedene Gründe. Betrachten wir zwei:

Erstens, die Menge des Geldes, das sich im Umlauf befindet, muß begrenzt bleiben. Gäbe es immer mehr davon, hieße das: Inflation. Die findet zwar unvermeidlich statt, sollte aber begrenzt werden – wie die Hyperinflation der Weimarer Zeit beweist, mit ansonsten katastrophalen Folgen. Anders gesagt: Je weniger es von etwas gibt, desto wertvoller wird es; damit Geld genug Wert behält, darf es nicht zu viel davon geben (daß Geld nicht wirklich einen Wert hat, sondern wir nur alle übereinkommen, so zu tun, ändert daran nichts). Das ist nun an sich noch kein kapitalistisches Problem – wird es aber, wenn eine Gesellschaft ermöglicht, sogar fördert, daß Einzelne Unmengen an Kapital – also Geld – an sich raffen. Äh, ich meine, „akkumulieren“. Erlaubt oder fördert eine Gesellschaft, daß Einzelpersonen oder Konzerne gewaltige Geldmengen an sich ziehen, dann kann das nur geschehen, indem ein Großteil der Bevölkerung immer ärmer wird – die Gesamtmenge des Geldes darf ja nicht steigen. Geld ist eine begrenzte Ressource; verfügen Wenige über sehr viel davon, müssen Viele zwangsläufig weniger davon haben. Und werden diese Reichen immer reicher, müssen alle anderen zwingend ärmer werden.

Einer der Mechanismen, die das ermöglichen, heißt „Ausbeutung“ – also die Praxis, daß z.B. Pflegekräfte, Fahrradkuriere oder Angestellte im Online-Versandhandel für Hungerlöhne schuften, während sich Inhaber oder Aktionäre die Taschen vollstopfen.

Zweitens: Armut ist das perfekte Druckmittel. Jedes Mitglied unserer derzeitigen Gesellschaft lebt mit dem ständigen Angstdruck, eventuell arm werden zu können. Das betrifft längst nicht mehr nur Angehörige der „Unterschicht“ oder des „Prekariats“. Es kann jeden erwischen: Jobverlust, dazu vielleicht noch eine Scheidung, oder die falschen Wertpapiere für die Altersvorsorge angeschafft, oder eine astronomische Mieterhöhung – schon sind auch Angehörige der Mittelschicht nicht mehr sicher vorm Abrutschen. Hinab in die Ränge derer, auf die man gestern vielleicht noch verächtlich herabgeblickt hat. Vielleicht unterstellte man ihnen Faulheit, oder anderes Versagen, um die eigene Furcht zu beschwichtigen (kann mir nicht passieren, ich bin ja fleißig, talentiert, leistungswillig) – doch eben dieser Versuch der Verleugnung zeigt, daß man eigentlich spürte: „Mich kann es auch erwischen“. Für Viele wird das Schreckensszenario in der Pandemie real; doch auch davor spürten wir diesen Angstdruck alle, werden ihn auch nach Covid weiter spüren, unabhängig von Einkommen und Status, und reagieren darauf mit zunehmendem Egoismus, Ellbogenmentalität, Feindseligkeit untereinander.

Angst als Kapitalanlage

Und auch das ist gewollt – die Knute der Armutsdrohung macht uns gefügig, bereit, uns ausbeuten zu lassen. Oder, wie der US-amerikanische Krimiautor Raymond Chandler in einem Vergleich von Sowjet-Kommunismus und Kapitalismus einmal formulierte: „Bei beiden dieselbe Überbeanspruchung des Individuums, um die äußerste Leistung aus ihm herauszuholen, […] dieselbe augenblickliche Rücksichtslosigkeit, mit der man fallenläßt, was schwach zu werden beginnt, dieselbe Verachtung für das Individuum als Person […]“.1) Ja, auch im Kommunismus wird man unterdrückt, wie in vielen Herrschaftssystemen; dort halten sie dir eine Knarre an den Kopf, hier drohen Not und Elend für dich und deine Familie, ggf. Erfrieren in der Gosse. Man könnte es auch so formulieren: Der Kapitalismus hat die Eigenschaft, alles in ausbeutbare Ressource zu verwandeln, auch den Menschen – und er nutzt daher eben auch die Armut, und unsere Angst vor ihr, als solche. Schlägt aus ihnen, sozusagen, Kapital.


1) Raymond Chandler, Die simple Kunst des Mordes, Zürich 1975, S.175

:: Bootstrap Theory: Münchhausen und die Medien

Es gibt manchmal Begriffe, über die stolpert man in einem Artikel, den man aus irgendeinem Anlaß liest; die Begriffe bleiben hängen, man recherchiert sie – und gelegentlich beschert einem das ein Aha-Erlebnis; oder einen griffigen Terminus für etwas, das man selbst schon beobachtet hat, aber nur beschreiben konnte.

Neulich lese ich also diese Worte: „Bootstrap Theory“. Wasdasdenn. Nun, es ist eine Theorie, die u.a. ein wenig Licht auf die Frage wirft, ob es so etwas wie „gesteuerte Medien“ oder gar eine „Lügenpresse“ gibt (Antwort: „Nein, aber …“). Wo ich über den Begriff gestolpert bin, kann ich leider nicht mehr erinnern oder herausfinden – alles, was ich kürzlich gelesen und im Verdacht hatte, habe ich vergeblich danach durchsucht. Na, was soll’s.

Also, was sagt die „Bootstrap Theory“, bzw. was ist „Bootstrapping“? Das Verb bezieht sich auf die Redensart „Sich selbst an den Schnürsenkeln (bootstraps) herausziehen“. Diese wird oft fälschlich auf eine Erzählung des Barons Münchhausen zurückgeführt, der sich selbst und sein Pferd darin aus dem Sumpf zog – allerdings an den Haaren, nicht den Schnürsenkeln.

Laut englischsprachiger Wikipedia findet der Begriff u.a. in der Kybernetik Anwendung, um selbstreferente Systeme zu beschreiben. Beispielsweise werden C-Compiler (Programme, die die Programmiersprache C für den Computer in Binärcode verwandeln) selbst in C geschrieben, so daß sich die Sprache gewissermaßen selbst an den Schnürsenkeln herbeizieht. In einem weiteren Sinn kann Bootstrapping sich auf das Booten eines Computersystems beziehen: Ein fest installierter Softwarekern lädt das Betriebssystem in den Speicher, das dann übernimmt und weitere Treiber startet, sich also quasi selbst lädt.

Ebenfalls verwendet wird der Begriff Bootstrapping bzw. Bootstrap in der Wirtschaft (Finanzierungsmethoden), der Biologie, der Linguistik und anderen Bereichen – und eben auch in der Medienkritik.

Bootstrapping in den Medien

Was meint Bootstrapping, auf mediale Berichterstattung bezogen? Die deutsche Wikipedia enthält mehrere Artikel zum Bootstrapping, deckt aber – anders als der englischsprachige Einzelartikel – bestimmte Anwendungen (noch) nicht ab, etwa die biologische und die medienbezogene. Halten wir uns also an den englischsprachigen Eintrag.

Beim Bootstrapping wird zunächst wird eine bestimmte Behauptung, ein Weltdeutungsmuster (z.B. Hufeisentheorie) oder eine Meme als angeblicher Fakt postuliert. Das erfolgt meist innerhalb eines geschlossenen Kreises von Journalistïnnen, die z.B. demselben Verlag angehören oder anderweitig vernetzt sind; es kann aber auch aus einem anderen Kreis, etwa von Historikerïnnen oder Lobbyistïnnen ausgehen, sofern diese Zugang zu Medienmacherïnnen und somit die Möglichkeit haben, ihre Behauptung öffentlich zu machen. Durch Wiederholung – entweder seitens der Urheberïnnen selbst, oder indem journalistische Artikel einander zitieren oder aufeinander verweisen – entsteht der Eindruck, es handele sich bei der Behauptung um ein in den Medien allgemein verbreitetes und akzeptiertes „Wissen“. Wichtig für erfolgreiches Bootstrapping ist dabei, daß irgendwann auch Medien außerhalb des ursprünglichen „Verursacherkreises“ dieses „Wissen“ übernehmen, es zitieren, sich darauf beziehen usw.; gelingt das, wird es auch in der Öffentlichkeit irgendwann als selbstverständlich akzeptiert. Die allgemeine Verbreitung der „an den Schnürsenkeln herbeigezogenen“ Behauptung – bzw. ihre ständige Wiederholung – gilt zuletzt als ihr Beweis.