Die Bahn streikt. Die Lokführergewerkschaft GDL, genau gesagt. Und die Deutschen sind sauer. Also alle. Angeblich.
Dabei ist laut einer neuen YouGov-Umfrage lediglich jede fünfte Person in Deutschland überhaupt vom Streik betroffen; d.h. 75% der Bevölkerung spüren die Auswirkungen – nach eigener Aussage – überhaupt nicht. Das wundert auch nicht – schließlich entfällt derzeit nur ein Fünftel der gesamten Verkehrsleistung hierzulande auf den sogenannten Umweltverbund, öffentliche Verkehrsmittel also.
Dennoch lehnen 60% der Bevölkerung den Streik ab.
Auch das verwundert kaum; denn wie schon in der Vergangenheit wird der Streik von einer massiven Medienkampagne begleitet, die Wut und Ablehnung erzeugen soll. Allen voran engagiert sich dabei natürlich die Springer-Presse; aber auch die sonstige journalistische Aufbereitung – nun, sie ist seltsam. Aber dazu gleich mehr. Einstweilen springen wie gewohnt manche Politikerïnnen auf den medialen Stimmungszug und fordern Einschränkungen des Streikrechts bei kritischen Infrastrukturen, z.B. das zwingende Vorausgehen eines Schlichtungsversuchs, ehe gestreikt werden darf. (Diese Idee birgt ihre eigenen Probleme; Schlichtungen setzen nämlich voraus, daß ein „schlichtungsfähiger“ Vorschlag auf dem Tisch liegt. Stellt sich z.B. die Arbeitgeberïnnenseite stur, kann gar nicht geschlichtet werden – wenn ein vorheriger Schlichtungsversuch aber die Voraussetzung dafür ist, streiken zu dürfen, könnten Arbeitgeberïnnen Streiks einfach verhindern, indem sie eine Schlichtung verunmöglichen. Was vielleicht die Absicht hinter dieser Forderung ist.)
Aber woran liegt das? Wir haben ein verfassungsrechtlich verbrieftes Streikrecht – doch jedes Mal, wenn Arbeitnehmerïnnen es nutzen, kommt es zu einer merkwürdigen Diskussion.
Dürfen die das?
Niemand würde sich hinstellen und offen fordern, das Streikrecht abzuschaffen – gar deswegen das Grundgesetz zu ändern. Stattdessen wird immer, wenn es genutzt wird, ein merkwürdiges Ritual zelebriert. Es dient dazu, die moralische Legitimität des Streiks zu leugnen. Der Ablauf folgt stets demselben Muster. Zuerst werden beliebige Leute auf der Straße befragt, was sie vom Streik halten – ob diese nun mittelbar, unmittelbar oder gar nicht von den Auswirkungen betroffen sind. Die Befragten, aber auch die fragenden Reporterïnnen beklagen dann stets, welche negativen Auswirkungen der Streik doch für Dritte hätte. Und ja, die gibt es. Nur werden diese stets höher bewertet als die Anliegen der Streikenden. Da können Leute bei Amazon lausig bezahlt werden, wie Strafgefangene elektronisch überwacht werden und gezwungen sein, und in Flaschen zu pinkeln – Protest dagegen wird als unrechtmäßig oder übertrieben dargestellt, darauf verwiesen, daß diese Leute ja z.B. das Weihnachtsgeschäft gefährden, und daß da Kinder ganz doll traurig sein werden, wenn der Coca-Cola-Opa Weihnachtsmann die X-Box nicht bringt.
Man scheint der Auffassung: Ganz gleich wie miserabel und zermürbend die Arbeitsbedingungen; ganz gleich, wie erbärmlich das Gehalt, und ob die Beschäftigten davon leben können; die Bequemlichkeit Dritter wiegt schwerer, und die Streikenden hätten eigentlich die Pflicht, tapfer die Zähne zusammenzubeißen und alle Qualen zu erdulden.
Kurz: Den Streikenden wird das moralische Recht abgesprochen, zu streiken. Sie werden eines moralischen Verbrechens beschuldigt, wenn sie ein ihnen zustehendes Recht in Anspruch nehmen.
Mediale Schelte
Die Rolle der Medien ist dabei ebenfalls, na, sagen wir: kurios. Daß Springer & Co. Stimmungsmache betreiben, muß niemanden wundern. Doch auch die „seriösen“ bürgerlichen Medienschaffenden, sowohl private wie öffentlich-rechtliche, gebärden sich eigenartig.
Deutsche Journalistïnnen haben es nicht leicht, was Einkommen und Arbeitsbedingungen angeht, besonders die Freien unter ihnen; und sie sind gewerkschaftlich organisiert (bei ver.di). Dennoch wird bei fast jedem Streik – egal ob von Lehrerïnnen, Kinderbetreuerïnnen, Krankenhaus- oder Pflegepersonal – zunächst die völlig legitime Inanspruchnahme des Streikrechts durch Angehörige anderer Branchen infrage gestellt.
Gewerkschaftsvertreterïnnen müssen sich Interviews stellen, in denen sie noch einmal explizit darauf verwiesen werden, welchen „Schaden“ ihr Streik anrichtet; erbarmungslos wird nachgehakt, ob das denn angesichts der Konjunkturlage ratsam sei, ob Lohnerhöhungen nicht Preiserhöhungen für die Kundïnnen zur Folge hätten, wie z.B. die Bahn das denn bezahlen soll, wo sie doch eh gerade soviel am Schienennetz zu reparieren hat, usw. Diese Interviews erinnern an Verhöre.