:: Onkel Wladimirs russisches Märchen

Oder: Tanz den Adolf Hitler.

Keine Sorge, ich komme noch darauf zurück. Aber erstmal: Glaubt jemand seit dem Überfall auf die Ukraine (übrigens: läuft nicht so gut, wie man hört) eigentlich noch jemand an Wladimir Putins Behauptung vom gebrochenen Versprechen des Westens, die NATO nicht nach Osten auszudehnen? Rhetorische Frage; die kurze Antwort lautet: Ja, bestimmt. Diejenigen im Westen, unterschiedlichster politischer Couleur übrigens, die Verständnis für die Aktionen des Diktators Präsidenten propagieren und mit der NATO-Osterweiterung begründen, dürfte es immer noch geben.

Und hier nun das Eigenartige – bis vor Kurzem meinten auch putinkritische Menschen, darunter zugegebenermaßen auch Herr Sathom, daß der Vorwurf nicht ganz von der Hand zu weisen sei. Die Idee, daß der Westen eine Mitschuld trage, weil er immer mehr osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen hat, daß er damit russische Befürchtungen geweckt habe, vor allem aber wortbrüchig geworden sei – diese Vorstellung steckte in den vergangenen Jahren wohl in vielen Köpfen, auch denen von Leuten, die das Putin-Regime ansonsten durchaus kritisch sehen.

Aber: Stimmt das überhaupt? Gab es ein Versprechen, wurde es gebrochen, hat der Westen, wie Putin in seiner Rede vom 21.02.22 einmal mehr behauptete, derartige Zusagen gemacht, aber nicht eingehalten?

Die kurze Antwort lautet hier: Überraschenderweise – Nein. Wie u.a. die Dokumentation Poker um die deutsche Einheit – Wurde Russland in der NATO-Frage getäuscht? zeigt, hat es derartige Zusagen nicht nur nie gegeben; sie wurden auch zu keinem Zeitpunkt von damals noch sowjetischer Seite verlangt. Zeitzeugen, darunter ein ranghoher EX-General der Roten Armee, bestätigen das. Pikant dabei ist, daß Boris Jelzin, von 1991 bis 1999 russischer Präsident, seinerzeit Interesse an einem NATO-Beitritt Rußlands bekundete; pikanter noch, daß ausgerechnet auch Putin selbst dies während seiner ersten Amtszeit tat. Totaler als mit einem Beitritt Rußlands könnte eine NATO-Osterweiterung, die Putin seit Jahren wortreich beklagt, wohl kaum sein; ein Beleg für die Verlogenheit der Putinschen „Argumente“. (In der o.g. Rede gibt Putin dieses Ansinnen sogar zu, offenbar bis heute verschnupft über die Absage, die er so darstellt, als hätte man ein gleichberechtigtes Rußland nicht haben wollen; daß ehemalige Staaten des Warschauer Pakts, z.B. Polen, so etwas wegen unguter Erinnerungen an die Sowjetzeit nicht gewollt haben könnten, kommt ihm nicht in den Sinn.)

Insgesamt ist das Ganze natürlich etwas komplizierter. Ja, es gab eine unglückliche Aussagen, z.B. vom damaligen deutschen Außenminister Genscher, die jedoch eher persönliche Meinungen darstellten als autorisierte Zusagen. Zugleich galten diese Äußerungen dem noch existierenden Warschauer Pakt, zu einer Zeit, als der Untergang der UdSSR noch nicht absehbar war; man versicherte, daß man dem östlichen Bündnis keine aktuellen Verbündeten abspenstig machen würde. Die UdSSR und mit ihr der Pakt zerbrachen; und noch Boris Jelzin gestand ehemaligen Satellitenstaaten wie Polen verblüffend offen zu, daß sie sich als souveräne Staaten ihre Bündnispartner, ggf. auch die NATO, selbst suchen dürften.

Nebenbei: Die Ukraine kann in absehbarer Zeit gar nicht NATO-Mitglied werden; der Nordatlantikpakt schließt diese Möglichkeit für Staaten, die aktuell drohen, in einen Krieg hineingezogen zu werden, nämlich aus (um zu vermeiden, daß Neumitglieder den sog. Bündnisfall gleich „mitbringen“). Ironischerweise übrigens lehnte die Mehrheit der Ukrainerïnnen einen NATO-Beitritt früher ab, wollte also gar nicht in die NATO – bis es zur Krim-Annexion kam. Nun wollen sie, können aber nicht mehr. Daß die Ukraine in dieser Situation ist, dafür hat Putin also selbst gesorgt. Daß die von ihm beschworene Bedrohung gar nicht existiert, weiß er also ganz genau.

Ich schätze, es gibt hier etwas zu lernen. Nämlich, daß man Opfer von Propaganda werden kann, selbst wenn man deren Quelle kritisch gegenübersteht; sogar extrem kritisch. Damals war ich in den Zwanzigern, also gewissermaßen auch Zeitzeuge; hätte ich mich zu der Zeit stärker und detaillierter politisch informiert (aber man hat da ja eher die Weiber andere Sachen im Kopf), hätte mir an Putins Narrativ also etwas auffallen müssen. Noch schlimmer: Daß auch viele westliche Medien, auch deutsche, dieses Narrativ lange Jahre auf eine Art wiederholten, die es in den Köpfen festsetzte; ohne wirklich zu hinterfragen, was denn zehn, zwanzig Jahre zuvor verdammt nochmal wirklich los gewesen war. Es ist dem Putin-Regime tatsächlich gelungen, ein Narrativ zu etablieren, und selbst bei kritischen Beobachtern ein gewisses Verständnis für seine Perspektive einzuwerben, obwohl die Gegenbeweise offen sichtbar waren – und historisch nicht einmal lange zurücklagen.

Na ja. Das dazu. Nur noch zwei Dinge:

Eben die einst von Jelzin zugestandene Souveränität spricht Wladimir Putin den Staaten des ehemals russischen Einflußbereichs nun ab. Worum es ihm tatsächlich geht, und das ist keineswegs irgendeine Bedrohung durch die verlogene NATO, hat er in der oben verlinkten Rede ziemlich offen zugegeben. Denn sie schlägt einen großen historischen Bogen – bis zurück ins 17. und 18. Jahrhundert. Die Ukraine und andere Baltische Staaten bezeichnet er als die „südwestlichen historischen Gebiete des alten Russlands“; und bezieht sich auf den russischen General Alexander Suworow, dessen Soldaten zu verdanken sei, daß eine Stadt namens Otschakow (eigentlich ukrainisch Otschakiw) Bestandteil des Zarenreichs wurde. „Zur gleichen Zeit, im 18. Jahrhundert, wurden die Schwarzmeerländer, die infolge der Kriege mit dem Osmanischen Reich an Russland angegliedert worden waren, Noworossija genannt“, fährt er fort.

Yep. Putin will nicht die alte Sowjetunion zurück; er kritisiert sogar ausdrücklich Lenin, der den frühen Sowjetrepubliken ein Sezessionsrecht zugestanden hatte, was „nicht nur ein Fehler, sondern weitaus schlimmer als ein Fehler“ gewesen sei. Nein, was Wladimir Putin zurück will, ist das alte Zarenreich selbst; eine kulturelle und ethnische Hegemonie, die potentiell auch Polen und andere slawische Länder umfaßt. Zumindest kann man, wenn man will, seine Rede so lesen – wenn man annimmt, daß die Bezugnahme auf Suworow kein Zufall ist. Denn Suworow war, wie auch sein gleichnamiger Enkel im 19. Jahrhundert, u.a. auch für die Niederschlagung von Aufständen verantwortlich – und zwar ausgerechnet in Polen. Es gäbe zahlreiche Nationalhelden, auf die Putin sich hätte beziehen können, wollte er nur die historische Größe Rußlands herausstellen; daß es ausgerechnet jemand ist, der in auch heute bedrohten Gebieten Unterdückungsmaßnahmen durchführte, gibt zu denken.

Man kann das als Zufall abtun – oder als subtilen Hinweis werten , daß Vlad Drakula Wladimir Putin tatsächlich Gebiete beansprucht, die irgendwann einmal dem Zarenreich angehörten. Was von beidem, weiß vermutlich nur er. Allerdings: Die Rede Putins, die etwa eine Stunde lang ist, macht einen z.T. recht wirren Eindruck; sie kommt vom Hundertsten ins Tausendste, erinnert fast an die Tirade eines wütenden, alten Mannes; sie könnte durchaus ein Hinweis sein, daß Putin geistig längst „hinter dem siebenmal siebten Meer, im siebenmal siebten Reich“ schwebt, wie es in russischen Märchen so schön heißt. Denn die NATO-Mär ist eben genau das – ein Märchen.

Ach so. Und um noch den Elefanten aus dem Raum zu schaffen: Natürlich kann man Putin ideologisch keinesfalls mit Hitler gleichsetzen, historisch auch nicht, trotz des brutalen und völkerrechtswidrigen Einfalls in die Ukraine; aber methodisch geht er doch verdammt ähnlich vor. Da ist das Märchen, Angehörige der eigenen Volksgruppe würden im anvisierten Zielgebiet diskriminiert, verfolgt, sogar Opfer eines Genozids (so „argumentierte“ Nazideutschland in Bezug auf Polen und die damalige Tschechoslowakei), die Beteuerung des eigenen Friedenswillens bei gleichzeitiger Kriegsvorbereitung, und schließlich – bei der Tschechoslowakei eine teilweise Besetzung, ehe man sich das Ganze unter den Nagel riß; es ist, als wolle die Baba Jaga Putin dieses Programm im Zeitraffer abspielen, wenn man ignoriert, wie lange er schon auf dieses Ergebnis hinarbeitet (Krimbesetzung). Und übrigens: Falls er vom zaristischen Rußland träumen sollte, gäbe es auch hierfür ein faschistisches Vorbild – Mussolini nämlich, der ja immerhin das römische Imperium wiedererrichten wollte.

Nun, „Der Mussolini“ war Anfang der 80er ein Hit der Rumpelcombo Deutsch Amerikanische Freundschaft – Putin ist vielleicht keiner, aber er tanzt ihn ganz gut nach.


P.S. Der Artikel bezieht sich auf Putins Rede vom 21.02.2022, weil ich diese für eine Analyse seines Denkens für wichtiger halte als die vom 24.02., mit der er den Überfall rechtfertigte. Die im Artikel verlinkte Übersetzung stammt ironischerweise aus einer Quelle, die Putins Darstellung weiterhin unterstützt; ich habe jedoch nur zwei vollständige Übersetzungen ins Deutsche gefunden, von denen die andere – beim Tagesspiegel – hinter einer Bezahlschranke steckt.

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